Annäherungen
Bisherige Krisen seien, folgt man Bolls Ausführungen, vor allem durch die Annäherung des einst hochspezialisierten und eher nischenhaften Kunstmarkts an das Finanzwesen entstanden. Die Entdeckung von Kunst als Anlageobjekt und der Boom der Nachfrage aus Japan in den 1980er Jahren, die Globalisierung des Angebots und die Annäherung von Kunstproduktion an Luxus-Markenware ab den 1990ern, das Spiel mit extrem hohen Garantiesummen zur Sicherung immer spektakulärerer Angebote in den 2000er Jahren sowie die Nutzung von Kunst zur Besicherung zur Krediten hätten den Kunstmarkt anfälliger für generelle Einbrüche gemacht. Das Platzen der Dotcom-Blase hinterließ ebenso Spuren wie die Finanzkrise 2008/'09.
Anders als beim Dahinschmelzen der Werte im Jahr 2009 wüssten Investoren und Sammler nun aber, "was sie am Konto haben", erklärte Boll. Den generellen Umsatzrückgang am globalen Kunstmarkt schätzt er für 2020 auf "unter 35 Prozent". Eine Schätzung ist grundsätzlich schwierig, weil rund die Hälfte der Verkäufe am privaten Markt getätigt und nirgends gelistet werden. Die Auktionshäuser berichten in ihren Jahresende-Bilanz-Aussendungen zwar auch von einem Rückgang des Volumens, sehen aber anhaltendes Käuferinteresse und eine gestiegene Bereitschaft, auch bei Fern-Auktionen hohe Summen zu bieten.
Das teuerste auktionierte Kunstwerk, Francis Bacons "Triptych Inspired by the Oreisteia of Aischylus" (1981), wurde übrigens heuer am 30. Juni bei einer Livestream-Auktion bei Sotheby's um $84.6 Millionen US-$ verkauft. Im Wiener Dorotheum freute man sich im November über einen Zuschlag von 1,8 Millionen Euro für ein Gemälde von Chaim Soutine. "Die Transformation von Saal- auf Online-Auktionen hat während des Lockdown im Frühjahr und Herbst bestens funktioniert", erklärt Dorotheum-Chef Martin Böhm dazu. "Wir verzeichnen einen enormen Zulauf an Neukunden und auch an jüngeren Interessenten".
Games sind die neuen Kunstmessen
Der Tenor, dass Corona einen Umbruch in den Ritualen des Kunstmarkts gebracht habe, dominiert auch Bolls Ausführungen. "Es gibt einen dramatischen Verlust des sozialen Prestiges des Kunst-Jetsettens“, sagt er. "Die Lust, nach Hongkong oder Miami zu fliegen, um dort Kunstwerke zu sehen, die man ebenfalls dort hingeflogen hat, ist bei 30-Jährigen heute weniger stark ausgeprägt“.
Diese Verlagerung verändere die Branche auf vielen Ebenen: 2021 würde Christie's die Hälfte aller Objekte in reinen Online-Auktionen und ohne gedruckte Kataloge anbieten. Die Anforderungen an Arbeitskräfte - sofern die großen Auktionshäuser nach dem teils massiven Stellenabbau des Jahres 2020 wieder aufstocken - würden dementsprechend verstärkt bei Objektfotografien und der Produktion von Filmen, 3D-Tools und anderer digitaler Instrumente liegen. "All die Menschen, die die Objekte aufbauen, abbauen, reinigen und die Ausstellungen bewachen – von denen brauchen wir weniger."
Der Kunstmarkt sei beileibe nicht Pionier darin, Online-Tools zur Vermarktung zu nutzen, so Boll, entdecke dies nun aber immer mehr. So seien Online-Spiele, die es erlauben, einander im virtuellen Raum zu treffen, vielleicht bald die Alternative zu Kunstmessen. "Die Software ist dieselbe. Doch der Markt liebt eben auch das Objekt".
Globalisierter Geschmack
Es bleibt die Frage, wem der Umbruch letztlich am meisten nützt. Christie's-Präsident Boll sieht zwar in Ansätzen eine neue Wertschätzung regionaler Künstler, Galerien und Institutionen, allerdings nicht im großen Stil: "Die Hauptbewegung geht ganz klar in Richtung eines globalisierten Geschmacks." Die finanzstarken Käufer möchten Kunst, die weltweit erkannt wird, und dementsprechend sei auch das Ende der Großkünstler, die solche Ware anbieten, noch nicht gekommen.
Die Neubewertung des historischen Kanons und die neue Wertschätzung bislang marginalisierter Kunstschaffender sei aber durchaus ein Markttrend, der sich 2020 auch in den hohen Preisen für zuvor kaum bekannte Künstlerinnen und Künstler gezeigt habe. "Anders als 2009 hat man den Drang zum Konservativen nicht gesehen, die Nachfrage hat sich stark auf die Kunst des Umbruchs fokussiert."
Die Hoffnung, dass der Digitalisierungsschub dem Künstlernachwuchs zugute kommen würde, hegt Boll allerdings nicht. Denn die avanciertesten Mittel zur digitalen Präsentation stehen eben nicht allen offen. Aus dem ohnehin kaum schon überschaubaren Angebot stechen nur wenige hervor, an denen sich dann die Begehrlichkeiten der globalen Sammlerklientel heften. Und so behält der Spruch "The winner takes it all" wohl auch für die jüngste Kunstmarkt-Krise und die hoffentlich folgende Aufschwungsphase seine Gültigkeit.
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