Roman "Cascadia": So hässlich ist das Paradies
Die San Juan Inseln im Pazifischen Ozean sind ein Naturparadies, wo man Kormorane, Robben und Wale beobachten kann. Das ideale Ziel für einen Tagesausflug, zu erreichen mit der Fähre vom Städtchen Friday Harbor. Vierzehn Mal täglich fährt die Fähre von hier aus die verstreuten Inseln an.
Meistens an Bord: „Wohlhabende Snobs mit grau meliertem Haar und kieferorthopädisch begradigtem Lächeln.“ Sam hat kein solches Lächeln. Sie hat Arbeiterklasse-Zähne. Sie ist die, die den Touristen Snacks verkauft und deren Müll entsorgt. Nebenbei nimmt sie an bezahlten Online-Umfragen teil, um über die Runden zu kommen. Bei ihrem Highschool-Abschluss vor zehn Jahren hatte sie gehofft, einen Job im Staatsdienst mit Sozialleistungen und Krankenversicherung zu finden. Es kam anders.
USA und Kanada
Dass ein armseliges Leben in einem Paradies, an dem man nicht teilnehmen kann, vielleicht noch höllischer ist als ein hässliches Leben in einer hässlichen Gegend – davon erzählt Julia Phillips Roman „Cascadia“. Cascadia, so wird das landschaftlich wunderschöne Grenzgebiet zwischen dem Nordwesten der USA und Kanada genannt. Im amerikanischen Original heißt der Roman „Bear“, „Bär“, und ein Bär soll und wird in dieser Geschichte alles verändern.
Protagonistin Sam hat wenig vom Idyll, in dem sie lebt. Sie wohnt mit ihrer Schwester Elena, die im Golfklub kellnert, und ihrer kranken Mutter in einem schäbigen Haus, das die verstorbene Großmutter einst von ihrer Witwenrente gekauft hat, in der Hoffnung, es würde die Familie in die Mittelschicht katapultieren. Ein Irrtum. Das Haus ist eine Bruchbude, die Mutter lungenkrank, die Schulden wachsen ihnen wegen der Arztrechnungen über den Kopf. Nichts wie weg hier. Das wünscht sich Sam schon ihr Leben lang und das schien auch immer der gemeinsame Plan der unzertrennlichen Schwestern.
Da schwimmt ein Bär
Als Sam von der Fähre aus einen Bären auf die Insel zuschwimmen sieht, weiß sie nicht, dass das der Anfang vom Ende des gemeinsamen Traums ist. Bald taucht das Tier vor ihrem Haus auf. Der Gestank von Fleisch, Fell, Öl und Erde breitet sich aus. Sam ist besorgt, Elena aber entwickelt eine merkwürdige Faszination für das Tier, scheint seine Nähe zu suchen, und während Sam Bärenspray besorgt, scheint Elena den Bären, mutmaßlich ein Grizzly, wie einen neuen Gefährten in ihrem Leben zu begrüßen. Zwischen den Schwestern tut sich ein Graben auf. Sam erkennt, dass ihre Schwester mehr als ein Geheimnis vor ihr hat.
Lange Zeit weiß man nicht, wohin diese faszinierende Geschichte will: Sozialkritik, Naturstudie, schwesterliches Beziehungsdrama oder doch Horrorstory? Hat man es überhaupt mit einer glaubwürdigen Protagonistin zu tun? Oder sieht Sam Gespenster? Ist der Bär gar eine Metapher? Julia Phillips macht es sich nicht leicht mit dieser Geschichte. Einen simplen Aha-Moment gibt es nicht. Das Ende kommt jedenfalls ziemlich überraschend.
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