Vigdis Hjorth: Als Mutter unbrauchbar
Dass Kinder das Gespräch zu den Eltern einstellen, passiert nicht so selten. Bestimmte Formen der Abgrenzung sind evolutionsbedingt sogar normal. Aber umgekehrt?
„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“ Tolstoi, erster Satz, Anna Karenina. Auch die Familie, um die es hier geht, ist auf eine besondere Weise unglücklich. Eine, die das übliche Maß Unglück vielleicht übertrifft. Der Roman „Die Wahrheiten meiner Mutter“ der norwegischen Schriftstellerin Vigdis Hjorth erzählt von Künstlerin Johanna, einer Endfünfzigerin, die vergeblich versucht, ihrer Mutter nahezukommen.
„Ich finde mich mit dem Mutterverlust ab, aber ich finde mich nicht damit ab, dass Mutter sich mit dem Tochterverlust abgefunden hat“ sagt Johanna. Jahrzehnte hat sie kaum darüber nachgedacht. Jetzt ist sie wieder mit dem Zuhause konfrontiert, mit der Kindheit, den Wurzeln des Unglücks. Vor 30 Jahren ist Johanna aus Norwegen fortgegangen. Hat Eltern, Schwester, Ehemann zurückgelassen und ist ihrer großen Liebe John nach Utah gefolgt. Die ersten Jahre kam noch hin und wieder eine Postkarte von der Mutter, ein Anruf von der Schwester, kamen Geburtstagswünsche für den Sohn. Als der Vater starb und Johanna nicht zum Begräbnis reiste, brach der Kontakt endgültig ab. Jetzt ist Johanna Witwe, ihr Sohn ist erwachsen und sie fragt sich, ob auch sie „als Mutter unbrauchbar“ ist. Eine Werkschau ihrer Arbeit führt sie zurück in die Heimat, sie beschließt, zu bleiben.
Ihre Mutter wohnt nicht weit von ihr, doch jede Kontaktaufnahme wird von der Schwester vereitelt. Leicht betrunken ruft Johanna eines Tages bei der Mutter an, diese legt auf. Johanna beginnt, ihre Mutter zu beobachten. Erst aus dem Auto. Dann folgt sie ihr. Lauert in der Hecke, wenn die Mutter aus dem Haus geht, versteckt sich im Stiegenhaus, wühlt sich durch ihren Müll. Kann, will nicht glauben, dass die Mutter selbst entschieden hat, nicht mit ihr zu sprechen.
Wahrscheinlich, glaubt sie, vermisst die Mutter sie sehr wohl, doch die Schwester verhindert Weiteres. „Vielleicht fürchtet sie, dass Mutter mich vermisst, wie eine Ehefrau, die ihrem Mann nach dem Seitensprung verziehen hat, um die Ehe zu retten, danach aber immer noch spekuliert, ob er manchmal von seiner Geliebten träumt, ewig besitzen wir nur das Verlorene. Wie schmerzhaft muss es für das treue, aufopfernde Kind sein, wenn die Eltern von dem verlorenen Kind träumen.“
Mehr und mehr rückt ihre Arbeit in den Hintergrund. Die Mutter wird zur Obsession in diesem Erfahrungsbericht einer wohl nicht ganz verlässlichen Erzählerin. Anekdotisch, in oft atemlosen, kurzen Abschnitten blitzen Erinnerungen auf, die von Härte und Unbarmherzigkeit des Vaters erzählen, deren stumme Zeugin die Mutter war. Man versteht, dass Johanna einst fortging. Womöglich hat Vergebung in einer Familie ihre Grenzen.