Du wirst dich um Mutter kümmern müssen, hat ihr Bruder Stanko zu ihr gesagt und Mira hat sich auf den Weg gemacht. Nach Kärnten, in den Ort ihrer Kindheit. Diese Reisen ins „Innere ihrer Kindheit“ strengen Mira immer an. „Mehr als ein tagelanger Fußmarsch mit schwerem Gepäck.“
Diesmal ist die Herausforderung besonders groß: Die Mutter wird immer gebrechlicher. Und jetzt hat ihr der Bruder eröffnet, dass man für sie eine andere Unterkunft werde suchen müssen. Cousin Franz, der das Häuschen, in dem Anni lebt, geerbt hatte, hat eigene Pläne damit. Schiebt man Anni jetzt ins Altersheim ab?
Maja Haderlap schreibt in ihrem neuen Roman „Nachtfrauen“ von einer beschwerlichen Expedition in die Vergangenheit.
Mira, Bibliothekarin in Wien, ist als junge Frau regelrecht aus Kärnten geflohen. An der Schuld gegenüber denen, die daheim geblieben sind, trägt sie heute noch schwer.
Als Außenseiterin gefühlt hat sie sich immer schon. Spätestens, als sie sich (auf Druck eines Lehrers) als Kärntner Slowenin für eine deutsche Schule entschieden hat. Heute noch hört sich ihre Stimme, sobald sie Slowenisch spricht, anders an. „Der slowenische Dialekt war das Tor, durch das sie eine abgeschlossene, scheinbar zurückgelassene Welt betrat, die von Menschen bevölkert wurde, von Lebenden und Toten, die etwas von ihr wollten.“ Dass Mira weder zu den Slowenen noch zu den anderen gehören wollte, hat sie auch von ihrer Jugendliebe Jurij entfernt, den sie jetzt, nach 37 Jahren, wiedertrifft.
Damals ging es ihr darum, ihren „Platz in der Welt“ zu finden. Sie hat ihn, das merkt sie spätestens, als sie jetzt in ihren alten Tagebüchern liest, immer noch nicht gefunden. Denn es gibt noch allerhand Traumata aufzuarbeiten. Persönliche wie politische. Mira laboriert heute noch an den Schuldgefühlen, die sie als Kind plagten, weil sie glaubte, am Tod ihres Vaters, eines Holzfällers, schuld zu sein.
Andererseits sind da die systemimmanenten Traumata: Jene von Generationen von Frauen, denen ein selbstbestimmtes Leben unmöglich war. Über sie hat Mira als junge Frau geforscht, hat ihre Erfahrungen aufgeschrieben und liest sie jetzt, wo sie in alten Erinnerungen wühlt, erneut. Und sie erfährt die Geschichte ihrer Mutter und ihrer Großtante Dragica.
Maja Haderlap erzählt sorgfältig, genau und doch sinnlich – etwa, wenn sie den muffigen Geruch im alten Kinderzimmer beschreibt, aber auch, wenn sie von Mutters Reindling, dem mit Rosinen gefüllten Germkuchen, erzählt.
Vor allem aber weiß sie, dass man manche Geschichten besser nicht auserzählt. Denn es ist auch eine Freiheit, zwischen allen Stühlen zu sitzen, wie es in diesem klugen Roman heißt.