Storys von Lydia Davis: Banal? Dramatisch? Hinreißend!
Nicht, dass man für dieses wunderbare Buch eine Leseanleitung bräuchte. Aber vielleicht einen Tipp.
Lesen Sie es nicht in einem Zug! Auch wenn es schwerfällt. Die kostbaren Nachdenklichkeiten, darunter Petitessen zum Schmunzeln ebenso wie tiefschürfende Einsichten, sollten sorgsam, häppchenweise genossen werden. Damit man sie ein paar Stunden mit sich herumtragen kann. Etwa die wie hingeworfen wirkenden Sätze namens „Vater muss mir etwas erzählen“.
Vater steht in der Küche, will ihr etwas über das Christentum erzählen, sie ist müde, hört nicht zu. Er geht daraufhin in sein Arbeitszimmer, tippt die Erklärung, die er seiner Tochter geben wollte, auf der Schreibmaschine ab, zeigt sie zuerst der Mutter, bevor er sie der Tochter überreicht, die sie natürlich nicht sofort lesen muss, weil sie einen langen Tag hatte.
In diesen Zeilen glimmt so viel vorsichtige Liebe, behutsame Zärtlichkeit. Der Vater, der seiner Tochter etwas näherbringen möchte, die Tochter, die erst später die Fürsorge des Vaters erkennt. Zum Heulen schön, man sollte das auskosten, bevor man weiterblättert.
Lydia Davis ist Meisterin der Erzählungen, die oft nur kleine Aperçus sind, wie Blitzlichter auf eine Situation oder eine zwischenmenschliche Konstellation geworfen. Zart und intensiv, oft auch komisch. Etwa die Geschichte vom Chef, dem vor Wut die Tränen kommen, weil seine Mitarbeiterin bockig ist. Großes, kleines Drama. Ebenso die Miniatur „Angst vor dem Älterwerden“: „Mit achtundzwanzig sehnt sie sich danach, noch einmal fünfundzwanzig zu sein.“ Manches liest sich wie ein Gedanke, den man der besten Freundin erzählen will, anderes wie eine kuriose Begebenheit, zu klein, sie groß zu erzählen, und doch zu schade, um gleich ganz vergessen zu werden.
Lydia Davis, geboren 1947 in Massachusetts, lebt in der Nähe von New York und gehört zu den wichtigsten Short-Story-Autorinnen Amerikas. 2013 wurde sie mit dem Booker-Preis ausgezeichnet. Davis ist außerdem Übersetzerin, unter anderem übertrug sie Peter Altenberg und Gustave Flaubert ins amerikanische Englisch. Ihr Bezug zur deutschen Sprache stammt aus der Kindheit, sie war Schülerin bei den Ursulinen in Graz. Das Französische kommt aus ihrer Jugend in Frankreich – wo sie einst mit ihrem ersten Ehemann Paul Auster, mit dem sie den 2022 verstorbenen Sohn Daniel hatte, lebte.
Lydia Davis war nie so berühmt wie Paul Auster. Die L.A. Times nannte sie „einen der stillen Giganten in der Welt der amerikanischen Literatur“, was ziemlich gut zu ihr passt. Wer Davis und ihre Prosa-Kleinode erst jetzt entdeckt, wird sich vielleicht fragen: Wo, um Himmels Willen, war diese Frau? Möglicherweise hat man sie übersehen.
Davis’ Bücher erscheinen auf Deutsch bei keinem Verlagsriesen, sondern beim unabhängigen Grazer Droschl-Verlag, ohne großes Werbe-Tamtam. „Skurril, wehmütig, präzise“ schrieb der KURIER einmal über Davis’ Alltagspoesie. Kann man so stehen lassen.