Sy, eigentlich Professor Seymour T. Baumgartner, 71, emeritierter Philosophieprofessor aus Princeton, seit zehn Jahren verwitwet. Und möglicherweise schon ein bisschen gaga? „Mach nur so weiter, du Trottel“, sagt er zu sich, „bald wirst du deinen Namen nicht mehr wissen.“
Paul Auster hat mit „Baumgartner“ fünf Jahre nach dem epischen Was-wäre-wenn-Wälzer „4321“ eine Art Gegenstück dazu geschrieben. Ein zartes Aperçu aus dem Leben eines Mannes, der sein letztes Lebenskapitel beginnt. In dem nicht viel mehr passiert als das: Sy verbrennt sich die Hand an einem glühenden Eiertopf, fällt, als er dem Stromableser den Keller zeigen will, die Stiegen hinunter und schleicht im Büro seiner verstorbenen Frau herum, wo er in ihren Unterlagen kramt und kurze Erzählungen über Jugenderinnerungen findet.
Wenig später träumt er, sie habe ihn angerufen. Die Dichterin und Übersetzerin Anna, Seelenverwandte, Liebe seines Lebens. Vor zehn Jahren ertrunken in den unbarmherzigen Wellen von Cape Cod. Ausgerechnet, dabei war sie eine exzellente Sportlerin. Ihr Tod hat ein Loch in sein Leben gerissen. Er kann sie nicht loslassen. Spricht mit ihr, hört ihre Stimme und das Klappern ihrer Schreibmaschine.
Man kommt an dieser Stelle nicht drum herum, an das Schriftsteller-Ehepaar Paul Auster und Siri Hustvedt zu denken, seit 41 Jahren verheiratet. Im Frühjahr machte Hustvedt die Krebserkrankung ihres 76-jährigen Mannes bekannt. Das Paar lebe nun an einem Ort, den sie „Cancerland“ nennt.
Die Tragik jeder großen Liebesgeschichte besteht im Wissen, dass einer von beiden eines Tages allein bleiben wird. So zweifellos diese Erkenntnis ist, so unvorstellbarer scheint sie Liebenden.
Und so wirkt auch Sy wie ein halber Mensch. Der zwar Jahre nach dem Tod seiner Frau kurz noch einmal glaubt, sich neu verliebt zu haben, aber nie aufhört, Anna zu vermissen.
Und doch: An Selbstaufgabe denkt hier keiner. Denn der Himmel ist an manchen Tagen immer noch bemerkenswert blau. „Die Erde brennt, die Welt steht in Flammen, aber fürs Erste gibt es noch Tage wie diesen, und den sollte er auskosten, solange es noch geht.“
An einem sonnigen Nachmittag Mitte September lässt sich Sy auf einem Klappstuhl im Garten nieder, blickt einem Vogel auf dem Weg in den Himmel nach, erinnert sich an seine Jugend, seine Eltern, an die winzige, wenige Quadratmeter große Wohnung, in der er innigste Momente mit Anna erlebt hat. Doch „Baumgartner“ ist kein Buch des Abschieds. Erinnern sei gestattet. Aber der Blick ist nach vorn gerichtet. Nütze den Tag, heißt es hier.
Und es wird ein Morgen geben. Eine Studentin meldet sich bei Sy, die eine Dissertation über Anna schreiben will.
Kurz vor dem letzten Kapitel also noch ein Aufbruch.