Joyce Carol Oates und ein Serienkiller namens „Babysitter“
Am Karfreitag 1977 nimmt das Unglück seinen Lauf. Ein Hauch von Spätwinter liegt in der Luft, als Hannah zu einem nahezu Unbekannten fährt. Zu ihrem ersten Ehebruch. Eine dunkle Designer-Sonnenbrille bedeckt einen Großteil ihres makellosen Gesichts. „Ich bin eine schöne Frau, ich habe ein Recht darauf, geliebt zu werden.“ Sie ist keine 40 und wird mit „Ma‘am“ angesprochen. „Wie eine alte Matrone“. Sie fühlt sich vernachlässigt, will begehrt werden. Finanzielle Sorgen hat sie keine, die Kinder werden von der philippinischen Nanny versorgt. Und der Gatte? Lieblos und völlig desinteressiert.
Während Hannah mit dem Aufzug zum Hotelzimmer des Fremden, den sie bei einer Wohltätigkeitsgala kennengelernt hat, hinauffährt, weiß sie bereits, dass sie umkehren sollte. Sie tut es nicht. Der vermeintliche Lover wird zum Peiniger. Zum Vergewaltiger, der sein Opfer beinahe zu Tode stranguliert. Im Täterprofil einer Mordserie an Kindern, die zur gleichen Zeit stattfindet, zeigen sich Parallelen zu den Misshandlungen an Hannah, die hier drastisch geschildert werden.
Die Fürsorge des Täters
Kunstvoll verwebt Joyce Carol Oates in ihrem neuen Roman „Babysitter“ Fakt und Fiktion. Besagte Mordserie gab es Mitte der 1970er in Detroit tatsächlich, die Geschichte der Hausfrau Hannah hat Oates dazuerfunden. Den zynischen Namen „Babysitter“ schrieb ein Reporter dem Täter damals auf den Leib, er muss dem Mörder gefallen haben. In wenig mehr als einem Jahr hat er sechs Kinder im Alter zwischen elf und vierzehn Jahren verschleppt, tagelang festgehalten, misshandelt, zu Tode stranguliert. Danach hat er ihre Leichen an öffentlichen Plätzen ausgestellt, nackt, wie aufgebahrt. Sorgfältig gewaschen und engelsgleich präsentiert, neben ihnen ihre gebügelte Wäsche.
Mysteriöse Verbrechen
Joyce Carol Oates lebte zu dieser Zeit in Detroit. Warum sie an den Ort dieser Verbrechen zurückgekehrt ist? „Ich wurde immer schon von mysteriösen Verbrechen angezogen, die gewissermaßen eine Bedeutung über die Tat hinaus haben. Der Serienkiller Babysitter schien mit seiner vorgeblichen Sorge um die Opfer etwas sagen zu wollen. Er tat so, als würde er sich sich um sie kümmern wollen, in einer Art und Weise, wie es deren Eltern offenbar nicht taten. Seine Message war: Er hätte sie nicht kidnappen können, wenn die Eltern besser auf sie aufgepasst hätten. Im Nachhinein erfuhr man, dass der Täter von seinen wohlhabenden Eltern und anderen Kinderschändern unterstützt wurde, wodurch er sich der Festnahme entziehen konnte“, erzählt Oates im Gespräch mit dem KURIER. Und fügt hinzu: „Ich bin immer wieder fasziniert von den archetypischen Mustern, die die Gegenwart beherrschen.“
Die New Yorkerin Joyce Carol Oates ist neben der Kanadierin Margaret Atwood die wahrscheinlich berühmteste und produktivste Schriftstellerin Nordamerikas. „Babysitter“ ist laut ihrem Verleger der 61. Roman der 85-Jährigen – sie selbst weiß das nicht so genau. Gewiss aber ist das Muster, das sie in ihrem jüngsten Roman sehr gekonnt anwendet, eines, das man bereits aus früheren kennt: eine fiktionale Geschichte, zusammengesetzt aus Bausteinen realer Ereignisse. Hier nun also die Mordserie, verknüpft mit der fiktiven Story Hannahs, die nicht erkennen will, dass sie vergewaltigt wurde, und in ihrer Realitätsverweigerung zulässt, dass ein unschuldiger Schwarzer dafür bezahlen muss. Es geht hier, in der Arbeiterstadt Detroit, auch um Rasse und Klasse. Zugleich aber auch um Fragen nach weiblichem Verlangen, nach Schuld und der Angst vor der bevorstehenden Sühne. Hannah ist eine zwiespältige Person. Vernachlässigt, und doch in ihrer sorglosen Wohlstandswelt verhaftet. Zu spät erkennt sie, dass sie sich in Gefahr begibt, doch immer wieder denkt sie an ihre Kinder: Stöße ihnen etwas zu, sei das wohl die gerechte Strafe für sie als „schlechte Mutter“.
Oates sagt, sie wollte hier „Masochismus und Selbstverletzung“, zwei absolute Tabuthemen, ansprechen. Themen, die auch in ihrer berühmtesten Romanveröffentlichung im Mittelpunkt standen: „Blond“, die literarisch verdichtete Lebensgeschichte Marilyn Monroes, für die Oates 2000 für den Pulitzerpreis nominiert und die 2022 von Andrew Dominik für Netflix verfilmt wurde. Und zwar ziemlich gelungen, wie Oates findet: „Andrew Dominik ist ein visionärer Regisseur, der auch die Horror-Elemente dieser Geschichte bravourös herausgearbeitet hat. Und die Performance von Ana de Armas als Norma Jean und als Marilyn Monroe war einfach atemberaubend.“
Marilyn und Norma Jean
„Blond“ sei eines der für sie schwierigsten Bücher gewesen, erzählt Oates oft. In gewohnt halbfiktionaler Erzählweise zeichnet sie darin das Porträt des Stars Marilyn Monroe, ebenso wie jenes der Frau Norma Jean Baker. Aus einer posthumen Perspektive. „,Blond’ ist eine post-moderne, teils fiktive Autobiografie, erzählt von der Protagonistin selbst, die ihr Leben auf einer gigantischen Leinwand noch einmal vorüberziehen sieht. Ich habe es aufgegeben, zu erwarten, dass jemand so etwas bemerken würde, aber experimentelles Schreiben schreckt mich nicht ab“, sagt Oates – es klingt leicht desillusioniert von der schnöden Welt der Literaturkritik.
Aber vielleicht bemerkt’s doch bald jemand und würdigt es dementsprechend. Oates, 1938 in New York geboren, wurde mit unzähligen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Booker Preis. Und sie gilt, ebenso wie ihre gute Bekannte Margaret Atwood, seit Jahren als Anwärterin für den Literatur-Nobelpreis.