Gerhard Roth: Die Welt und alles Weitere
Man ist ihm oft begegnet, diesem Franz Lindner. Gerhard Roth setzte ihn ein vermeintlich letztes Mal als Ich-Erzähler im Roman „Die Imker“ ein, der kurz nach Roths Tod am 8. Februar 2022 erschien. Bis Jänner desselben Jahres arbeitete Roth an einem Text, der nun als Romanfragment namens „Jenseitsreise“ vorliegt.
Ich-Erzähler ist erneut Franz Lindner, der sich, wie in früheren Romanen, auch Wilhelm Hermann nennt und als jemand aus dem „Haus der Künstler“, einer Anstalt für geisteskranke, künstlerisch begabte Menschen, vorstellt: Ein Bezug auf das „Haus der Künstler“ in Gugging, dem Roth nicht nur literarisch ein Freund war, sondern dessen Bewohner er persönlich unterstützte und deren Werke er sammelte.
Grundlage dieses Romanfragments sind Notizen, begonnen im Oktober 2018 und wegen eines Krankenhausaufenthaltes beendet im Jänner 2022. Die handschriftlichen Aufzeichnungen sind auszugsweise hier abgedruckt und geben ein beeindruckendes Zeugnis von Roths Arbeitsweise eines ständigen neu Denkens und Überarbeitens ab. Sie beginnen mit einem wenige Seiten umfassenden „ersten Buch“ namens „Mein Tod“: „Ohne zu zögern sprang ich in den Abgrund.“ Der Ich-Erzähler verlässt seinen Körper, taucht ab in die Kindheitswelt und wacht als Wurm namens Franz Lindner auf, der, bald gefressen von einer Elster, in deren Körper durch ein Totenreich reisen wird. Angesiedelt ist dieses in Ägypten, das Roth oft besucht hat. Dort, im Fegefeuer der Totenstadt Kairo, begegnet Lindner Tieren – einem Wüstenfuchs, einem alten Bienenvolk, immer wieder Katzen. Außerdem einer Fülle von realen Figuren aus der Geschichte, vor allem Künstlerinnen und Künstlern.
Sein Jenseitsführer ist eine fiktive Figur namens Elias Schneider, die, ebenso wie Lindner, als Vogel reist und an Dantes Führer Vergil in der „Göttlichen Komödie“ erinnert. Wie bei Dante nimmt auch hier ein Teil der Erzählung das Fegefeuer ein, wo die meisten Künstler nun existieren. Schriftstellern von Jonathan Swift, Marcel Proust bis Ingeborg Bachmann stattet der Ich-Erzähler in Vogelgestalt Besuch ab. Manchen, Proust etwa, versucht er, Offenbarungen abzutrotzen. Diesfalls sinnlos. Andere will er verteidigen – nein, Lewis Caroll war nicht pädophil, er liebte diese 11-Jährige, der er, 31, einen Heiratsantrag machte.
Oft sind diese ausgefeilten Erzählminiaturen genial-grotesk – im Carroll-Kapitel nicht zuletzt durch die argwöhnischen Katzen, die Carroll kein Wort glauben.
Denn ja, Humor gibt’s auch im Jenseits: „Ich fragte Georg Trakl, wie er sich fühle, und er antwortete: ,schlecht’“. Manches ist auch rührend, etwa, wenn die Elster selbst zum Objekt wird und Hannah Arendt zu ihr sagt: „Oh boy, wie hast du dich zu uns verirrt?“
Stellenweise wirkt Roths enorm dichte „Jenseitsreise“ jedoch, als habe er rasch noch alles, wirklich alles sagen wollen. Dann mischt sich in diese „babylonische Bibliothek“, von der hier, Borges zitierend, die Rede ist, eine etwas brave Aufzählung biografischer Fakten. Wer weiß, was Roth am Ende noch damit gemacht hätte.
Er habe immer schon ein Buch schreiben wollen, das niemand versteht, schickt Roth seiner „Jenseitsreise“ voraus. Aber was heißt schon verstehen. Man kann sich auch einfach darauf einlassen, auf diese fantastische Reise eines Wurms im Körper einer Elster.