Vor genau 100 Jahren, am 3. Juni 1924, starb Franz Kafka im Sanatorium Hoffmann in Kierling bei Klosterneuburg an Tuberkulose. Seit Jahresbeginn überschlagen sich Veranstaltungen und literarische Neuerscheinungen zu dem deutsch-jüdisch-tschechischen Schriftsteller, der vielen als wichtigster deutschsprachiger Autor des 20. Jahrhunderts gilt.
Neben rein wissenschaftlichen bereichern persönlich-literarische Auseinandersetzungen das Universum der Kafkalogie. Eine Auswahl bemerkenswerter Texte, unter anderem von Jon Fosse, Jan Faktor, Michael Kumpfmüller, Dana Grigorcea und A. L. Kennedy, ist im Band „Kafka gelesen“ versammelt. Er beginnt mit einer leichtfüßigen Erinnerung des Salzburger Essayisten Karl-Markus Gauß an einen „Irrtum, den ich Kafka verdanke“:
Im Rahmen einer Prag-Reise mit seinen Kindern (bei der er angemessen kafkaesk im Aufzug stecken blieb) zitierte Gauß den 16. Zürauer Aphorismus (Kurztexte, die Kafka im Kurort Zürau verfasste): „Ein Käfig ging einen Vogel suchen.“ Gauß verdrehte allerdings Subjekt und Objekt und so erinnerte sich die Familie jahrzehntelang, wenn die Sprache auf die Prag-Reise kam, falsch an Kafkas Aphorismus: Vogel sucht Käfig. Erst dreißig Jahre später klärte Gauß den Irrtum auf. Die Enttäuschung war zunächst groß, doch man kam zur Einsicht: Auch ein Irrtum hat etwas für sich. All die Jahre hatte Gauß nicht Kafka, sondern das, was sein Inneres daraus gemacht hatte, zitiert. Freiheit sucht Sicherheit. Eigentlich ein schöner Gedanke über das Wesen von Literatur überhaupt: welch individuelle Bedeutung sie für jeden Einzelnen haben kann.
Anders, doch ähnlich lebensnah, ist Clemens Setz’ Betrachtung zu Kafkas kurzer Erzählung „Die Sorge des Hausvaters“. Die Sorge dieses Hausvaters, heute würde man wohl Hausmeister sagen, gilt einem Wesen namens Odralek, einer Zwirnspule. Dass dieses Wesen in Treppenhäusern und auf Dachböden wohnt, fasziniert Setz schon allein deshalb, weil er seit jeher überzeugt ist, dass sich die interessantesten Vorgänge im Stiegenhaus abspielen. „Ich gehe lieber durch Treppenhäuser als durch Kunstgalerien.“
Er träumte von Josef K.
Der Darstellung und Erläuterung von Kafkas „traumhaftem inneren Leben“ widmet sich Manfred Müller, Präsident der Österreichischen Franz Kafka Gesellschaft, in „Kafka träumt“. Kafka, tagsüber Versicherungsjurist, schrieb meist nachts, oft an der Grenze zwischen Schlaf und Wachsein. 70 Traumtexte sind hier versammelt und von Müller kommentiert. Wer Kafka besser verstehen will, sollte diesen schmalen Band erkunden. Schließlich träumte Kafka auch von einem gewissen Josef K.
Der Fall Gregor Samsa
Den literaturwissenschaftlichen Blickwinkeln juristische hinzufügen: Das ist die Intention des Kärntner Richters i. R. Janko Ferk, der sich intensiv mit Franz Kafka, Doktor der Rechtswissenschaft auseinandersetzt.
In „Kafka neu ausgelegt“ fügt Ferk einigen von Kafkas Originaltexten eigene Überlegungen hinzu – stets eingedenk Theodor W. Adornos Diktum über Kafkas Schreiben: „Jeder Satz steht buchstäblich und jeder bedeutet.“ Die Erzählung „Bericht für eine Akademie“ über den Affen Rotpeter, der von seiner „Menschwerdung“ berichtet, beschreibt Ferk als „verklausulierten Versuch“, die Bemühungen der Juden in der österreichisch ungarischen Monarchie darzustellen, sich zu assimilieren.
Eine Interpretation, die heute nicht mehr alle teilen, die Ferk jedoch sorgsam mit Zitaten und Fußnoten belegt. Aus juristischer Sicht besonders interessant ist natürlich die Sache mit Kafkas Testament, laut dem seine unveröffentlichten Texte vernichtet hätten werden sollen, was sein Gefährte Max Brod bekanntermaßen verhinderte und so Weltliteratur rettete. Die Antwort des Juristen Ferk auf Kafkas „Vernichtungsansinnen“ lautet: Es ist kompliziert. Im Grunde ist Brod recht zu geben, denn Kafkas Testamente seien Literatur und als solche „einmalig zweideutig.“
In „Kafkas Strafen neu ausgelegt“ widmet sich Ferk unter anderem dem Fall Samsa aus der Erzählung „Die Verwandlung“. Die Familie Samsa wird hier nach dem zur Zeit der Veröffentlichung geltenden Recht des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs (zum Tragen kommen Bestimmungen von 1852) geprüft. Vater Samsa habe als Familienvorsteher Fürsorgepflicht – Sohn Gregor gehört jedoch seit seiner Metamorphose „nicht mehr in den gesetzlich determinierten Familienverband.“ Traurig, aber gesetzestreu.
Franz Kafkas Erzählungen: Josefine, die Sängerin
„Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse“: Franz Kafkas letzte Erzählung berichtet von einer grauen Maus und ihren Versuchen, ihre Kunst zu vermitteln. Zumindest der berichtenden Maus gegenüber gelingt ihr das nicht. Es geht ihr wie vielen Künstlern: Ihre Kunst vermag nicht, für ihr tägliches Brot aufzukommen. Am Ende aber wird sie erlöst von der „irdischen Plage“. Kafka vollendete diese Erzählung im Frühjahr 1924, kurz danach übersiedelte er mit seiner letzten Gefährtin Dora Diamant ins Privatsanatorium Kierling.
Bald darauf starb Kafka, der sein Leben lang nach „Erlösung gesucht“ hatte, wie der ungarische Essayist László F. Földényi im Nachwort dieses Bandes schreibt. Versammelt sind hier Erzählungen, Parabeln und Prosastücke, die teilweise zu Lebzeiten erschienen, doch großteils erst von Kafkas Vertrautem Max Brod aus dem Nachlass herausgegeben wurden. Sämtliche Klassiker wie „Die Verwandlung“, „Das Urteil“, „In der Strafkolonie“ oder „Der Hungerkünstler“ sind hier zu finden. Außerdem Daten zu Kafkas Leben und Werk, in aller Kürze, doch mit den relevantesten Informationen.
Was sich hinter der morschen Stalltür verbirgt: Franz Kafkas „Ein Landarzt“
„Ich war in großer Verlegenheit, eine dringende Reise stand mir bevor; (...).“ Es ist einer dieser für Franz Kafka typischen, dringlichen Sätze, mit dem die Erzählung „Ein Landarzt“ beginnt. Wie Josef K. oder Gregor Samsa, ist dieser Landarzt eine Figur zwischen Diesseits und Jenseits. Weil er wegen einer dringenden Visite ein Pferdegespann sucht, tritt er die unbenutzte Tür eines Stalls ein – und findet sich in einer Parallelwelt wieder.
„Ein Landarzt“ erschien, „gewidmet meinem Vater“, gemeinsam mit 12 weiteren Erzählungen erstmals 1920 im Münchner Kurt Wolff Verlag. Das Titelblatt der Erstausgabe weist fälschlicherweise das Jahr 1990 aus. Der Berliner Galiani Verlag hat die Sammlung nun nach dem Text der Erstausgabe neu herausgegeben, bemerkenswert gestaltet und illustriert von der deutschen Zeichnerin und Illustratorin Kat Menschik. Abgesehen vom fast zu lieblichen Cover gelingt es Menschik, die bereits Erzählungen von E. T. A. Hoffmann oder Edgar Allan Poe bebildert hat, den surrealen Kosmos Kafka bildernerisch auf den Punkt zu bringen. Meist finster, manchmal bunt aber immer zum Staunen.