Erich Kästner: Keiner blickte hinter sein Gesicht
Es ist gewiss nicht rasend elegant, einen Artikel mit dem, wenn auch leicht abgeänderten, Titel eines anderen Werks zu betiteln. Doch Erich Kästners Gedicht „Keiner blickt dir hinter das Gesicht“, nach dem auch Sven Hanuscheks Biografie benannt ist, charakterisiert Kästner, diesen „undurchschaubaren Aufklärer“, zu gut, um darauf zu verzichten.
Erich Kästner, geboren am 23. Februar 1899 in Dresden, gestorben am 29. Juli 1974 in München, war Lyriker, Romancier und Kinderbuchautor. Seine Kinderbücher sind in mehr als 50 Sprachen übersetzt, die meisten von ihnen haben kaum Patina angesetzt. Einerseits, weil Kästner, der auch Hörspiele und Drehbücher schrieb, Dramaturgie und Timing beherrschte. Seine geschliffenen Sätze wirkten mühelos, „wie hingespuckt“, wie er es ausdrückte.
Vielleicht liegt diese Zeitlosigkeit aber auch an Kästners Einfühlungsvermögen – er begegnete Kindern auf Augenhöhe. Ein Beleg dafür könnte dieses berühmte Zitat sein: „Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt. Früher waren sie Kinder, dann wurden sie Erwachsene, aber was sind sie nun? Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch.“
Was aber sagt das über ihn als Person? Dass er selbst das Kind in sich bewahrte? Man muss vorsichtig sein mit solchen Vermutungen, schreibt Sven Hanuschek in seiner 1999 erstmals veröffentlichten, nun erweiterten Biografie – unter anderem um Details zur Urfassung des Romans „Fabian“, 2013 unter dem Titel „Der Gang vor die Hunde“ von Hanuschek herausgegeben.
Scheinbar authentisch
Oft klingen Kästners Gedichte und Romane autobiografisch, in den Kinderbüchern sowie deren Hörfassungen und Verfilmungen kommt er selbst immer wieder vor, und seine Kindheitserinnerungen heißen scheinbar authentisch „Als ich ein kleiner Junge war“. Doch hier ist Vorsicht geboten. „Kästner sprach in Rollen“, so Hanuschek. Tatsächlich ist sein Nachlass lückenhaft, bisherige Biografien haben Diskretion walten lassen, notgedrungen, der echte Kästner hat sich eben nie „hinter das Gesicht blicken lassen“.
Auch Hanuschek betreibt keinen biografischen Voyeurismus. Über die Etappen Kindheit (mit Herzfehler), Vorzugsschüler, Soldat, Student und schließlich Journalist und Autor wird das Gerücht über Kästners angebliche „zwei Väter“ unspekulativ gestreift und sein problematisches Frauenbild sowie die enge Beziehung zur depressiven Mutter thematisiert – ihr berichtete er über Jahrzehnte in den „Muttchenbriefen“ detailliert von Arbeit und Liebesaffären.
Kästner als Autor für Erwachsene sah sich selbst als „nicht zur A-Klasse“ gehörig und war bestimmt kein Avantgardist. Zuweilen frivoler Satiriker, oft melancholischer und ebenso oft fortschrittsskeptischer Humorist, besaß er einen „anthropologischen Pessimismus“, wie Hanuschek schreibt– gewiss ein Mitgrund, warum er heute noch so beliebt ist. Dass die Welt nicht besser wird, liest man immer wieder gern. Kästners Schwermut komme aus seiner „Routine“, monierte der Philosoph Walter Benjamin angesichts Kästners Vielschreiberei. Nicht der einzige Kritiker, der hier vorkommt. Auch Kästners Vorbild Kurt Tucholsky war ihm nicht immer ein freundlicher Rezensent.
Politisch warf man Kästner oft vor, dass er 1933, nach der Machtergreifung der Nazis, nicht emigrierte. Hanuschek verteidigt ihn. Kästner habe, wie viele andere, die Lage falsch eingeschätzt und das später selbst kritisch gesehen. Ebenso wie sein Drehbuch für den Goebbels-Auftrags-Film „Münchhausen“ 1943. Immerhin schmuggelte Kästner da eine Hitler-Karikatur hinein.
Natürlich sei die Frage legitim, ob man an einen Moralisten besondere Moralansprüche stellen müsse, schreibt Hanuschek und sagt: Er tue das nicht, sein Buch sei aus einer „Haltung des Belegs heraus geschrieben“.
Als Beleg für die Widersprüchlichkeit des Menschen ebenso wie für die Genialität des Autors Kästner kann seine Figur des orientierungslosen Fabian im gleichnamigen Roman gelesen werden, 1931 veröffentlicht, 1933 von den Nazis verbannt. Sein Autor hatte „gewusst, dass sich etwas ändern müsse, er wusste nur nicht, was.“