In dem Moment, als sie sich bewegte, drückte der Mann ihr die Hand auf den Rücken. Ihr blieb nichts anderes übrig, als reglos auf dem Bauch zu liegen und in ihrem Kopf blitzten die Worte auf: „Der Mensch aber erkenne sich selbst.“
Doch sie war kein Mensch.
Sie war – ja was nur?
Die Menschen nannten sie Maus. Sie lebte in den Slums am Rande einer Chemiefabrik. Nachts suchte sie Unterschlupf bei Familien mit Herd, tagsüber schnüffelte sie in deren privaten Dingen herum. Manche Menschen teilten ihr Essen mit ihr, andere versuchten, sie zu vergiften.
Man braucht eine Weile, um zu begreifen, wer oder was denn dieses Wesen in „Geschichten aus dem Slum“ nun ist. Eine fellige Icherzählerin, die von ganz unten berichtet. Die vor Hunden und manchen Menschen auf der Hut ist. Letzteren hört sie bei ihren Schwafeleien zu, um selbst hohle Sätze zu reproduzieren: „Der Mensch aber erkenne sich selbst.“
Erzählende Nagerin
Doch Can Xues erzählende Nagerin aus der Geschichtensammlung „Schattenvolk“ ist kein sprechendes Tier, das altklug auf die Menschen blickt, um deren Verfehlungen aufzudecken. Sie ist keine Allegorie und hat auch keine fabelähnliche Funktion. Weder Orwell noch La Fontaine lassen grüßen. Can Xues Wesen, das es hasst, Maus genannt zu werden, ist nicht einmal besonders schlau, höchstens ein bisschen argwöhnisch. Es hat ein ganz eigens Schicksal und Can Xue legt ihm mit knapper, eingängiger Sprache einen eigenen Ton in den Mund. Das Fellwesen versucht schlicht, in dieser finsteren Geschichte zu überleben und Würde zu bewahren, auch wenn da nebenan tatsächlich eine Fledermaus furzt. Über den Kerl, der es eben noch streichelte und ihm nun giftige Pilze serviert, schüttelt das fellige Erzählwesen bloß den Kopf. Und wenn eine Ratte an den Knochen eines alten Mannes nagt, versucht es, in der ganzen Grausamkeit noch Sinn zu erkennen. Vielleicht hatte der Mann einen Tumor?
Was ist schon „kafkaesk“
Fast ist man verleitet, das alles ein bisschen „kafkaesk“ zu finden, aber dieses inflationär verwendete Attribut trifft’s auch nicht ganz. Denn dazu sind Can Xues Geschichten zu klar, zu wenig düster und verworren – dabei gilt sie als Vertreterin der experimentellen literarischen Avantgarde Chinas.
Dass Can Xue nicht der richtige Name der 1953 in Changsha geborenen chinesischen Autorin Deng Xiaohua ist, weiß man spätestens seit vergangener Woche. Schließlich galt die mehrfach ausgezeichnete, in Peking lebende Schriftstellerin als Favoritin für den Literaturnobelpreis, der letztlich an die Südkoreanerin Han Kang ging.
Einst eine Schneiderin
Can Xue, Tochter eines regimekritischen Verlegerpaares, ist in unterschiedlichen literarischen Genres zuhause – Kurzgeschichten, Erzählungen, Romane, Essays. In einem Interview erzählte sie, dass sie zwar sehr beeinflusst von westlichem Surrealismus sei, dies aber ihr Schreiben nur unvollständig darstelle. „Die westliche Kultur legt Wert auf den Geist, die chinesische Kultur legt Wert auf die Praxis, und beide Kulturen haben ihre Stärken“, sagt die 71-Jährige. Dazu passt, dass Can Xue lange als Schneiderin arbeitete und privat immer noch gerne näht. Ein wiederkehrendes Motiv in ihren Texten.
Und diese Verbindung aus Geist und Bodenständigkeit liest man auch aus ihren Geschichten heraus, die wenig mit „Normalität“ zu tun haben. Es geht um Menschen, Tiere und Geister zugleich. Das Geheimnisvolle ist hier selbstverständlich. Etwa in der titelgebenden Erzählung „Schattenvolk“, in der sich die Menschen in die Wände ihrer Wohnungen zurückgezogen haben und zu blassen Schatten geworden sind.
Kommentare