Amélie Nothomb: „Ich wollte an der Schwelle von Leben und Tod stehen“
Die belgische Bestsellerautorin über bizarre Positivität, kindische französische Schriftsteller und den Skandal um das Grab des Dichters Charles Baudelaire
Papier, wohin man blickt. Briefe stapeln sich auf dem Schreibtisch, dem Sessel, den Regalen. Von Lesern, Bewunderern, Fans. Amélie Nothomb verbringt täglich fünf Stunden damit, ihnen zu antworten. Handgeschrieben. „Meine rechte Hand ist der einzige Teil meines Körpers, der wirklich viele Muskeln hat.“ „Neun von zehn“ Briefe beantwortet Nothomb in ihrem winzigen Büro im Stammhaus ihres Verlegers Albin Michel gegenüber des Pariser Friedhofs Montparnasse, wohin sie nun auch zum Interview geladen hat. Samt Friedhofsspaziergang.
KURIER: Madame Nothomb, haben Sie vor, all diese Briefe zu beantworten?
Amélie Nothomb: Ja, so gut wie alle. Außer, sie sind unhöflich oder komplett verblödet.
Was wollen die Leute denn von Ihnen?
Die meisten möchten mir ihre Meinung über meine Bücher mitteilen. Darauf reagiere ich. Manchmal entwickeln sich Korrespondenzen daraus, die zu Brieffreundschaften werden. Manche Briefe sind sehr klug, andere wiederum simpel oder sentimental.
Gibt es ein Buch, über das die Leute besonders gern reden?
Alle meine Bücher sind in Frankreich Bestseller, aber der größte war „Mit Staunen und Zittern“, in dem es um eine schlimme Erfahrung in einem Unternehmen geht. Viele haben Ähnliches erlebt, und daraus ergibt sich Redebedarf.
Ich sehe hier nur handgeschriebene Briefe.
Fast ausnahmslos. Manche sind auch mit der Schreibmaschine geschrieben. Was ich ablehne, sind Mails. Wer eine Antwort von mir will, der muss zu einem Bogen Papier und einem Kuvert greifen.
Weil Sie grundsätzlich nicht am Computer arbeiten?
Richtig. Dahinter steckt keine Wertung, das ist einfach nicht mein Arbeitsinstrument.
Sie schreiben also auch Ihre Romane mit der Hand?
Ja. Täglich ab vier Uhr Früh. Das Manuskript bringe ich dann meinem Verleger.
Sind Ihre Romane deshalb immer so kurz ?
Meine Romane sind kurz, weil mir das wichtig ist. Ich tue alles dafür, dass sie immer kürzer werden. Meine Idealvorstellung von Sprache ist der Haiku. Ich bin leider noch weit von meinem Ideal entfernt, hoffe aber, eines Tages dort anzukommen.
Ihr Kollege John Irving ist noch weiter als Sie vom Haiku entfernt. Sein neuer Roman hat 1.088 Seiten.
Ich bin ein riesengroßer Fan von John Irving. Aber wir haben nicht viel gemeinsam.
Er schreibt oft über Vatersuche. Und Sie haben nun auch ein Buch über Ihren Vater geschrieben. Noch dazu in erster Person. Ungewöhnlich.
Ich habe meinen Vater zu Beginn der Corona-Pandemie verloren. Wegen des Lockdowns konnte ich nicht zu seinem Begräbnis nach Belgien fahren. Meine Trauer war unermesslich. Es ging mir nicht und nicht besser, noch Monate nach seinem Tod. Ich wusste, ich muss etwas unternehmen. Und weil ich Schriftstellerin bin, dachte ich mir, dies sei der Moment, etwas Unvorstellbares auszuprobieren: Meinem Vater sein Leben zurückzugeben, indem ich kein Buch über ihn, sondern ein Buch an seiner Stelle schreibe. Ein Buch, das er durch mich schreibt. Das bedeutet nicht, dass ich nicht die Autorin bin. Es ist mein Stil, nicht der meines Vaters. Aber ich war während der Arbeit daran richtiggehend beseelt von ihm.
Ihr Vater hat die Geschichte, um die es hier geht, die Geschichte seiner Geiselnahme, bereits in einem Buch erzählt.
Ja, aber eben in seinem Stil. Frei von jeglichen Emotionen. Er war Teil einer Generation, für die es als unhöflich galt, Emotionen zu zeigen, insbesondere negative. Sein Buch ist faszinierend, weil es von seiner Geiselnahme erzählt, mit allen politischen Details. Sehr empfehlenswert, wenn Sie sich für afrikanische Politik interessieren. Aber Sie werden nicht erfahren, wer mein Vater war. Er gibt nichts von seiner Persönlichkeit preis. Während der Arbeit an meinem Buch wurde mir bewusst, wie wenig ich tatsächlich von ihm wusste. Ich wollte an der Schwelle zwischen Leben und Tod stehen, an jener zwischen seiner und meiner Person, indem ich ein Buch schrieb, das er nie hätte schreiben können, denn hier geht es um Emotionen.
Abgesehen davon ist aber nichts erfunden im Buch.
Nein. Nur die Emotionen. Ich erinnere mich, als er den Moment beschrieb, in dem er exekutiert werden sollte. Er zeigte keinerlei Regung. Ich dachte, nein, das kann nicht sein, du hast dem Tod ins Gesicht gesehen! Das kann dich nicht unberührt gelassen haben!
War diese Geiselnahme eigentlich Thema in der Familie?
Wenn mein Vater davon sprach, dann nur als außergewöhnliches Erlebnis. Das war ein weiterer Charakterzug meines Vaters: ein Exzess von Positivität. Auch wenn er von seiner Kindheit sprach. Er hatte eine traumatisierende Kindheit. Doch wenn er davon erzählte, klang sie wie die reinste Idylle.
Verdrängung?
Bestimmt. Ich habe immer einen tiefen Widerspruch in ihm gespürt. Ich sehe ihm ähnlich. Ich bin sehr sensibel, aber im Gegensatz zu ihm verstecke ich es nicht. Seine Positivität war bizarr.
Sie haben nichts von dieser bizarren Positivität geerbt?
Alles ist relativ. Im Vergleich zu meinem Vater, nein, aber im Vergleich zu vielen Pariser Schriftstellern ganz bestimmt. Die jammern und beschweren sich den ganzen Tag, sind ständig wütend. Im Vergleich dazu bin ich sehr positiv.
Ihr Vater hat Stefan Zweigs „Ungeduld des Herzens“ während der Geiselhaft gelesen.
Das war sein Lieblingsbuch. Ein Meisterwerk.
Auch für Sie wichtig?
Ja, aber der wichtigste Dichter war für mich Rainer Maria Rilke. Er hat mich zu der gemacht, die ich bin. Eigentlich wollte ich immer Japanerin werden. Hat bekanntlich nicht geklappt. Mit 17 habe ich Rilkes „Briefe an einen jungen Dichter“ gelesen und gewusst, ich will schreiben. In meiner Familie war Schreiben etwas Heiliges. Was ganz und gar nicht dazu einlädt, es selbst zu versuchen. Aber Rilke war für mich eine Offenbarung. Er stellte die richtige Frage! Es geht beim Schreiben nämlich nicht darum, ob man Talent hat. Das weiß niemand. Es geht darum, ob man ohne Schreiben weiterleben kann. Wenn das der Fall ist, dann sollte man es lassen.
Und Sie wussten ab da, Sie können nicht ohne ?
Schreiben ist mein ganzes Leben. Ich schreibe gerade an meinem 107. Manuskript. Publiziert habe ich jedoch nur 31.
Und der Rest?
Wird niemals veröffentlicht. Das habe ich bereits in meinem Testament verfügt.
Zur Person: 1966 geboren als Fabienne Claire Nothomb in Brüssel, alternativ 1967 in Kobe, Japan, verbrachte die Tochter des belgischen Diplomaten Patrick Nothomb ihre Jugend in Asien. Seit 1992 veröffentlicht sie jährlich einen Roman, viele davon muten autobiografisch an. Nothomb inszeniert sich exzentrisch, huldigt dem Gothic Chic.
Apropos: Sie haben Ihr Büro hier direkt gegenüber dem Friedhof. Gefällt Ihnen das?
Das ist perfekt. Hier liegen große Schriftsteller begraben, unter anderem Sartre, Simone de Beauvoir, Baudelaire.
Baudelaire hat ein Grab auf der einen und einen Gedenkstein auf der anderen Seite des Friedhofs.
Dafür gibt es eine Erklärung. Man hat ihn eigentlich im Familiengrab bestattet, wo auch sein verhasster Stiefvater, der General Aupick liegt, der ihn seine ganze Jugend lang gequält hat. Das war ein echter Skandal. Baudelaire-Verehrer haben ihm dann auf der anderen Seite des Friedhofs ein Denkmal gebaut. Man sagt, dort liege seine Seele. Ich gehe täglich dorthin.
Bleiben wir noch bei französischen Schriftstellern. Sie haben gesagt, die seien dauernd beleidigt. Warum eigentlich?
Generell stimmt das Vorurteil, die Franzosen seien ständig unzufrieden, nicht. Ich bin Belgierin, lebe aber seit zwanzig Jahren mit einem Pariser zusammen, kann das also beurteilen. Was die Schriftsteller betrifft, stimmt es allerdings schon. Die sind dauernd am Raunzen.
Warum unterstützen so viele den kommunistischen Politiker Jean-Luc Mélenchon?
Das ist furchtbar. Ein schrecklicher Populist. Ich hasse Le Pen, aber ihn hasse ich genauso. Mich verbindet nichts mit Emmanuel Macron, aber wenigstens ist er nicht verrückt.
Warum hassen ihn die Franzosen so? Geht es immer noch darum, den König zu köpfen?
Ja. Die Franzosen haben keine politische Kultur. Sie sind wie verwöhnte Kinder, die nie über die Grenzen ihres Landes hinausblicken. Ich sage nicht, dass Macrons Politik gut ist, aber die Proteste gegen die Rentenreform sind in dieser Dimension völlig absurd! Niemand will länger arbeiten, aber wenn der Rest Europas das tut, werden wir es auch müssen.