Alice Munro: Was harmlos aussah, brodelte unter der Oberfläche
Alice Munro war die erste kanadische Literaturnobelpreisträgerin und das besagt wesentlich mehr als bloß die Farbe ihres Passes (Blau).
Alice Munro, geboren am 10. Juli 1931 in Wingham, Ontario, war auch in ihrem Schreiben Kanadierin durch und durch. Sie schrieb fast ausschließlich Kurzgeschichten, eine Gewohnheit aus der Zeit, in der sie sich um Kinder kümmern musste und zwischen Küche und Schreibtisch pendelte.
Die vergleichsweise selten ausgezeichnete erzählerische Kurzstrecke, die Munro so bravourös bewältigte, dass Kollegen sie gar mit Anton Tschechow verglichen, war bei Munro auch inhaltlicher Ausdruck. Tschechow war Meister des literarischen Wendepunktes, der sprichwörtlichen „Smoking Gun“, der rauchenden Pistole, die eine neue Wende in einer Geschichte bringt. Bei Munro verlief das meist unspektakulärer. Falsche Entscheidungen, große Enttäuschungen oder auch nur kleine Entzauberungen, die ein ganzes Leben umstürzen.
Oft waren es vermeintlich kleine, bescheidene Leben in Dörfern inmitten endloser, unwirtlicher Landschaften. Alice Munro brauchte keine große Kulisse, um Großes zu erzählen. Sie glaubte daran, dass das Leben etwas wert ist. Das Leben einfacher Hausfrauen, Schwestern, Freundinnen. Menschen, die, so heißt es in einem ihrer Bücher, „die Namen der Bäume, die Last ungeschriebener Briefe“ kennen. Und für die es in diesen unsentimentalen Geschichten selten ein Happy End gibt.
Das kanadische Dilemma
Munros Kollegin Margaret Atwood, ebenfalls Kanadierin und seit Jahren Anwärterin auf den Literaturnobelpreis, veröffentlichte 1972 die literaturhistorische Betrachtung „Survival – ein Streifzug durch die kanadische Literatur“. Darin zitierte sie aus einem Roman des Autors Brian Moore. „Da hast du das kanadische Dilemma in einem Satz. Über Kanada will niemand sprechen, nicht einmal wir Kanadier. (...) Kanada ist stinklangweilig.“
Munros Erzähluniversum war gewiss nicht „stinklangweilig“, es war aufregend, aber nicht auf den ersten Blick. Bei ihr konnte eine verbilligte Konservendose zum Auslöser für einen Dreifach-Mord werden, wie in der Erzählung „Dimensionen“ im Band „Zu viel Glück“ (2009). Was unspektakulär aussah, brodelte unter der Oberfläche.
Auf die Frage, was das Kanadische an kanadischer Literatur ist, gibt es viele Antworten, eine davon findet man bei Munro. Die Weite, die Kälte, die Größe im Kleinen. Munros Vater war Pelztierfarmer, ihre Mutter Lehrerin.
Die ersten Lebensjahre verbrachte sie in Goderich, einer Hafenstadt am Lake Huron, benannt nach dem indigenen Volk der Huronen. Bereits als Teenager begann sie zu schreiben, die Kleinstädte ihrer Kindheit kommen in ihren Erzählungen immer wieder vor. Im autobiografisch geprägten Band „Wozu wollen Sie das wissen?“ berichte sie auch von ihren schottischen Vorfahren, die Einfluss auf ihr Schreiben gehabt hätten: „Schottland war schließlich das Land, in dem John Knox durchsetzte, dass jedes Kind, und sei es in einer Dorfschule, Lesen und Schreiben lernte.“ Ihre erste Erzählung veröffentlichte Munro mit 20, 1951 verkaufte sie erstmals eine Kurzgeschichte an das Radio. Doch der Durchbruch ließ sich Zeit. Als sie den ersten Band „Tanz der seligen Geister“ 1968 veröffentlichte, war sie Ende dreißig, seit fünfzehn Jahren mit Jim Munro verheiratet und Mutter von vier Töchtern, von denen eine mit zwei starb.
Munros Werk umfasst einen Roman und zwölf Erzählbände. Ihre bekannteste Geschichte ist „Die Jupitermonde“. Die als scheu geltende Autorin wurde oft ausgezeichnet, unter anderem 2009 mit dem Man-Booker-Preis und 2013 mit dem Nobelpreis für Literatur. Ihren letzten Erzählband „Ferne Verabredungen“ hatte sie schon davor fertiggestellt und ihren Rückzug als Schriftstellerin angekündigt. Sie litt an Demenz und lebte zuletzt in einem Pflegeheim. In einem ihrer letzten Interviews sagte sie: „Es ist nicht so, dass ich das Schreiben nicht geliebt habe, aber man kommt in eine Phase, wo man über sein Leben irgendwie anders denkt.“ Alice Munro starb am 13. Mai im Alter von 92 Jahren