Bruce Springsteen singt für Freunde im Diesseits und Jenseits
Juli 2018: Bruce Springsteen sitzt am Bett eines sterbenden Patienten in einem Spital in North Carolina. Georg Theiss, einer seiner ältesten Freunde, der Mann, der ihn in den 60er-Jahren in die Band The Castiles geholt hatte, hat Lungenkrebs und nur mehr wenige Tage zu leben.
Es war dieses Ereignis, das der amerikanischen Rock-Ikone die Inspiration für das kommenden Freitag erscheinende Album „Letter To You“ gab. „Als George gestorben war, fiel mir auf, dass ich der letzte Überlebende der Castiles war“, erzählte The Boss, wie Springsteen von den Fans genannt wird, bei einer Zoom-Pressekonferenz. „Diese Band war für mich so wichtig gewesen. Mit ihr habe ich gelernt, wie man eine Show aufbaut, wie man ein Frontmann ist. Ich habe gelernt, in einer Band zu sein. Und daraus, dass ich nicht in einer Band sein wollte – dass ich zwar eine Band haben, aber nicht in einer sein wollte.“
Über die Castiles und den Tod von Theiss schrieb Springsteen den Song „Last Man Standing“. Und der gab ihm das Thema für „Letter To You“: „Die Musik! Darüber hatte ich noch nie zuvor Lieder geschrieben!“
In nur wenigen Tagen entstanden kurz darauf die anderen Songs von „Letter To You“ – auf einer Gitarre, die Springsteen von einem Fan bekommen hatte: „Ein junger Mann gab sie mir nach einer Broadway-Show. Erst dachte ich, er will, dass ich sie signiere. Aber er sagte: ,Nein, wir haben sie für dich anfertigen lassen.’ Ich nahm sie nach Hause und sah, dass das nicht nur wunderschöne Handarbeit war, sondern auch ein ausnehmend angenehm zu spielendes Instrument. Also blieb sie in meinem Wohnzimmer, und ich schrieb fast alle neuen Songs damit.“
Sechs oder sieben Jahre hatte Springsteen keine Rock-Songs geschrieben, einfach keinen Drang danach verspürt. Er hatte seine Autobiografie „Bruce Springsteen: Born To Run“ verfasst, stand mehr als ein Jahr lang fast jeden Abend am Broadway in New York mit seiner Solo-Show auf der Bühne und nahm danach das mit Orchester eingespielte, melancholische Solo-Album „Western Stars“ auf, das Ende 2019 auf den Markt gekommen war.
Auf den ersten Blick erscheinen die Themen der Songs von „Letter To You“ denen von „Western Stars“ ähnlich. Springsteen macht sich Gedanken über das Leben, die Vergänglichkeit und den Tod, schaut zurück in die Kindheit und auf die bewegendsten Momente seines Lebens. Allerdings aus einer jeweils anderen Perspektive.
„Der Protagonist von ,Western Stars’ ist ein typisch amerikanischer Einzelgänger, der den Weg durch das Leben und Anschluss sucht. Der Protagonist in ,Letter To You’ ist eingebunden in eine Gemeinschaft von Musikern, Nachbarn, Familie und Freunden. Das bin ich, dessen Welt von einer großartigen Band geprägt war, die mir 50 Jahre lang eine Heimat gegeben hat. Ich und die mächtige E Street Band erinnern uns dabei an Freunde, die gegangen sind, zelebrieren Freunde, die hier sind, den Rock ’n’ Roll und die Freude am Leben.“
Nur in „Rainmaker“ bezieht sich Springsteen, der beim Songschreiben laut eigenen Angaben „immer die Distanz zwischen dem amerikanischen Traum und der Realität“ ausgelotet hat, mit Visionen von Dürre und verzweifelten Farmern auf Gegenwärtiges. Aber auch dieser Song zielt – obwohl der 71-Jährige ein glühender Demokrat ist – nicht auf die Politik von Donald Trump und dessen Verleugnung des Klimawandels ab.
„,Rainmaker’ war schon ein paar Jahre, bevor Trump Präsident wurde, fertig“, erzählte Springsteen dem Rolling Stone. Dafür, dass er in einer Zeit, die er in seinem Land als „die härteste und eigenartigste meines Lebens“ empfindet, keine politischen Songs geschrieben hat, hat er einen triftigen Grund: „Ein Anti-Trump-Album wäre die fadeste Platte, die es gibt!“
Vielleicht hätten solche Themen auch nicht zu dem erdigen Rock-Sound gepasst, der Springsteen vorschwebte, nachdem er den Song „Janey Needs A Shooter“ aus den 70er-Jahren ausgegraben und neu aufgenommen hatte: „Er klang so großartig nach den Zeiten von ,Darkness On The Edge Of Town’, wo ich und die E Street Band so unbefangen drauflos musiziert und im Studio alles ohne Overdubs aufgenommen haben, während alle in einem Raum zusammenspielten. Da wusste ich, mein nächstes Album muss genau diesen Sound und diese Energie haben.“
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