Autor der Liebermann-Krimis: "Für mich war klar, dass sie nur in Wien spielen können“
von Gabriele Flossmann
Wer dem Geist Sigmund Freuds, des Begründers der Psychoanalyse, nachspüren will, muss zwei Städte besuchen: seine Heimat Wien und sein Exil London. Der Bestsellerautor Frank Tallis hat beides zu bieten. Er lebt in London, wo er seinem Beruf als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker nachgeht. In seiner Freizeit schreibt er Kriminalromane, die in Wien spielen und für die er bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Mit seiner Reihe rund um den Psychiater Max Liebermann und den Kriminalinspektor Oskar Reinhardt, auf der die TV-Serie „Vienna Blood“ (neue Folgen mit Matthew Beard und Juergen Maurer ab Freitag, 20.15 Uhr, in ORF2) basiert, entführt er sein Publikum ins Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
KURIER: Was war für Sie das ausschlaggebende Motiv, Ihre Krimi-Reihe rund um Max Liebermann und Oskar Reinhardt in Wien anzusiedeln?
Frank Tallis: Als Psychoanalytiker war und bin ich immer wieder mit „Criminal Minds“ konfrontiert – also mit Menschen, die zu kriminellen Taten fähig sind. Oder besser: mit Menschen, die ihre kriminellen Fantasien, zu denen jeder Mensch bisweilen neigt, in die Tat umsetzen. Und als ich beschloss, meine Erfahrungen in Kriminalromane einzubringen, war für mich von Anfang an klar, dass sie nur in Wien spielen können. In der Stadt von Sigmund Freud. Er hatte die Parallelen zwischen einem Psychoanalytiker und einem Detektiv erkannt. Beide suchen nach Hinweisen: Der eine nach unterdrückten Traumata, die hinter einer Krankheit stecken, der andere nach Spuren, die zur Auflösung eines Kriminalfalls beitragen können.
Sie haben viele Bücher über Sigmund Freud geschrieben. Wissen Sie, was er von Kriminalromanen gehalten hat?
Freud war ein Krimi-Fan. Er kannte alle Agatha Christie- und Dorothy Sayers-Romane, die damals schon erhältlich waren. Besonders gerne hat er die „Sherlock Holmes“-Geschichten gelesen. Das geht auch aus seinem Nachlass hervor.
Der Protagonist Ihrer Krimireihe, Max Liebermann, ist das, was man heute „Profiler“ nennen würde. Ist diese spezielle Form der Täterermittlung auf Sigmund Freud zurückzuführen?
Die Profiling-Methode basiert auf einer profunden Kenntnis der menschlichen Psyche und die geht auf Sigmund Freud zurück. Er hat damit die Kriminologie entscheidend beeinflusst. Freud war vor allem daran interessiert, welchen Einfluss die Kindheit auf einen erwachsenen Menschen hat. Wenn jemand Hass, Gier oder Eifersucht nicht im Griff hat, dann ist das wie ein Rückschritt in die Kindheit, in der man den Umgang mit starken Gefühlen noch lernen musste. Und wenn dazu noch schwach entwickelte Moralgefühle, Eitelkeit oder Narzissmus kommen, dann kann es zu Verbrechen, im schlimmsten Fall zu Mord und Totschlag kommen.
Liebermann ist zwar eine fiktionale Figur, basiert aber auf Theodor Reik, einem tatsächlichen Schüler von Sigmund Freud. Was war Reiks Beitrag zur Kriminologie?
In seinem Buch „Geständniszwang und Strafbedürfnis“ führte er aus, dass Verbrecher ihre Schuldgefühle unterdrücken und ihr Unterbewusstsein sie deshalb dazu veranlasst, am Tatort Hinweise zu hinterlassen, die sie überführen können. Das heißt, dass das Unterbewusstsein die Wahrheit sagt, auch wenn wir lügen. Nach dieser Methode arbeitet ja auch ein Lügendetektor. Und wir alle kennen auch den Ausdruck „Freud’scher Versprecher“. Jemand will etwas Bestimmtes sagen, aber aus seinem Mund kommt versehentlich etwas, was er wirklich gedacht hat. Ein Profiler – und das ist Max Liebermann – kann diese versteckten Hinweise deuten.
Waren es nur Freud und sein Schüler, die Sie dazu veranlasst hat, Ihre Krimis in Wien spielen zu lassen, oder gibt es auch noch andere Gründe?
Mich hat die politische Lage im Jahrhundertwende-Wien interessiert und wie sie zu einem Nährboden für Verbrechen werden konnte. Die Österreicher haben schon gespürt, dass das Habsburger-Reich dem Untergang zugeht. Daraus resultierte ein Paradigmenwechsel, der zu Protestversammlungen auf den Straßen Wiens führte. Und je größer die Menschenmenge wurde, desto mehr verwandelte sie sich in einen Mob. Die sozialen Forderungen der Protestierenden und der Ruf nach mehr Gerechtigkeit ging im Lärm der Gewalt und der Zerstörungswut unter. Und es gab damals schon Politiker, die sich die Überfremdungsängste der Bevölkerung, die Furcht vor Arbeitslosigkeit durch Massenzuwanderung aus allen Teilen der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie zunutze machten und die Proteste anheizten. Diese Beobachtung hat Freud ja in seinem Buch „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ festgehalten und eine Antwort auf die Frage gesucht, warum sich Menschen in der Masse oft ganz anders und primitiver, wie Herdentiere benehmen. Diese Lektüre wäre heute so manchem Politiker zu empfehlen, angesichts der vielen Protestbewegungen, bei denen oft wichtige demokratische Forderungen vom Aktionismus des Mobs übertönt werden.
Kein Fernsehabend, kein Bücherregal, kein Podcast ohne mehrere Krimi-Angebote. Woher kommt diese Faszination des Publikums?
Sie kommt daher, dass Kriminalgeschichten – egal ob in der Literatur oder im Fernsehen – am besten den Zustand einer Gesellschaft beschreiben. Wir wollen Verbrechen verstehen, weil sie Ausdruck der dunklen Seiten eines Menschen sind, und wenn wir gemeinsam mit den Ermittlern in diese Regionen unserer Seelen vordringen, dann verstehen wir uns – vielleicht – auch selbst. Die Popularität von Kriminalliteratur, von Krimi-Podcasts und TV-Serien hat sicher etwas damit zu tun, dass die heutige Gesellschaft versucht, sich selbst zu analysieren. Vielleicht kann ja der Doktor Liebermann in „Vienna Blood“ dazu einen Beitrag leisten.
Frank Tallis
Der Schriftsteller und klinische Psychologe wurde 1958 in London geboren. Mit seiner preisgekrönten Krimi-Reihe rund um den Psychiater Max Liebermann und den Kriminalinspektor Oskar Reinhardt entführt er ins Wien der Jahrhundertwende, wo die Wissenschaft der Kriminologie ihre Anfänge nahm. Nicht zufällig ist Doktor Max Liebermann ein Schüler von Sigmund Freud. Neben seinen Krimis schreibt Tallis auch international anerkannte Fachbücher über Freud und dessen Theorien und Methoden
Die Serie
Matthew Beard und Juergen Maurer begeben sich in drei neuen Filmen von „Vienna Blood“ wieder auf Spurensuche. Den Auftakt macht am Freitag der Fall „Rendezvous mit dem Tod“, „Der Schattengott“ folgt am Montag (2. Jänner), „Der Tod und das Mädchen“ am Dienstag (3. Jänner – jeweils 20.15 Uhr, ORF2). Regie führte Robert Dornhelm
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