Als wäre keine Zeit verstrichen: Man nimmt Platz im Salon, der dienstbare Geist serviert, wie die letzten Male, Rooibos-Tee mit etwas Orangensaft. Und dann erscheint in einer Flügeltüre André Heller, sanft lächelnd, die Augen blitzen freudestrahlend. Er versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Aber ganz spurlos ist die Zeit nicht an ihm vorbeigegangen.
Darüber redet er auch – offen, mit makabren Witz. Nur über ein Thema will er nicht reden. Denn was juckt es den Baobab, wenn ein Nachtfalter sich an seinen Ästen reibt?
KURIER:Sie haben sich nach einer unangenehmen Geschichte vor mehr als zwei Jahren vollkommen zurückgezogen. Dazu äußern wollen Sie sich nicht?
André Heller: Warum soll ich mir einen rostigen Nagel, der entsorgt ist, noch einmal eintreten – und sei es auch nur einen tausendstel Millimeter? Es sind mittlerweile viele Erstaunlichkeiten passiert, die wesentlich interessanter sind.
Sie meinen die Wiederauferstehung von „Luna Luna“?
Zum Beispiel. Nach dem Ende der Präsentation 1987 in Hamburg stand eine Europatournee an. Aber die Pläne zerschlugen sich. Ich verkaufte die Attraktionen schließlich an eine Foundation in San Diego. Sie waren dann in Texas in einer Halle untergebracht, in 35 Containern, gerieten fast in Vergessenheit. Und dann kam, irgendwie über fünf Ecken, eine Interessensbekundung von einer mir unbekannten Gruppierung rund um einen der größten Stars der Welt, den Rapper Drake. Für mich war das wie ein Aprilscherz – so, als würde jemand sagen: Du kannst mit zum Mond fliegen, übermorgen ist die Abreise. Aber Ferdinand, mein Sohn, hat die Anfrage von Anfang an ernst genommen. Und die Abgesandten von Drake haben „Luna Luna“ wirklich gekauft!
Die von Künstlern gestalteten Fahrgeschäfte sind unter dem Titel „Forgotten Fantasy“ seit Dezember 2023 in Los Angeles ausgestellt – und das Spektakel schlechthin.
Ja, es ist ein Triumph bei der Kritik und den Besuchern. Obwohl noch nicht einmal alle Attraktionen restauriert sind! Jeden Tag kommen massenhaft Menschen aller Altersgruppen und Ausbildungsgrade mitsamt ihren Kindern, um sich erstaunen zu lassen. Die Liste der damals Mitwirkenden liest sich ja tatsächlich wie ein Who’s Who der Meisterkünstler: Keith Haring, David Hockney, Salvador Dalí, Baselitz, Basquiat, Roy Lichtenstein, um nur ein paar zu nennen …
Angeblich soll der Kunstjahrmarkt auch andernorts, etwa in New York, gezeigt werden.
Ich bin selber gespannt. Die Besitzer werden schon das Klügste tun. Ich war nur bei der Öffnung der Container dabei und hab’ mich quasi bei den Kunstwerken entschuldigt, dass die so lang im Finstern sein mussten.
Zur Präsentation der Schau in Los Angeles aber sind Sie nicht geflogen?
Lange Flüge erfreuen weder meinen Geist noch meinen Körper.
Sie hatten, hört man, gesundheitlich schwere Probleme.
Ich habe mir einen Oberschenkelhalsbruch eingehandelt und Wochen danach ein kaputtes Knie. Das ist ausgerechnet in Marokko passiert, mit einer stundenlangen Operation in einem afrikanischen Spital. Auch so eine verrückte Geschichte.
Sie sind in Ihrem Anwesen Anima gestürzt?
Ich habe auf den Besuch von Ferdinand von Schirach gewartet. Und dann hat mein Handy geläutet. Beim Telefonieren gehe ich immer auf und ab, was keine gute Eigenschaft ist, wie ich nun weiß. Denn ich ging am Swimmingpool entlang, dann bin ich abgerutscht, hineingefallen und dabei mit dem Oberschenkel an der Kante aufgeschlagen. Zuerst habe ich gar nicht geglaubt, dass das, was passiert ist, passiert ist. Das war eine interessante Erfahrung: Ich habe meinen Schmerz, meine Angst nicht geglaubt. Ich dachte, ich könnte einfach zum Beckenrand schwimmen. Aber man musste mich rausziehen. Dabei warf ich einen Blick auf die Wasseroberfläche – und das ganze Schwimmbad war blutrot. Ich dachte, ich verblute. Aber gleichzeitig glaubte ich: So massiv kann es doch nicht sein! War es auch nicht.
Sondern?
Ich trug eine rote Lederjacke, feine Handarbeit aus Marokko. Und sie färbte im Wasser innerhalb kürzester Zeit aus … Das war das vermeintliche Blut. Dann kam Ferdinand von Schirach und war natürlich über die Situation ziemlich irritiert. Irgendwann lag ich in der Rettung, die mich nach Marrakesch ins Krankenhaus bringen sollte. Das war auch ein einzigartiges Erlebnis. Denn die Straßen sind enorm holprig. Ich bekam operativ einen 26 Zentimeter langen Titan-Nagel in den Oberschenkel. Mir wurde später bestätigt, dass der Arzt – Gott sei Dank – gute Arbeit geleistet hat. Monatelang war ich aufgrund der Nebenwirkungen sehr starker Schmerzmittel in einem Ausnahmezustand. Ich hatte immer das Gefühl, dass draußen eine Serie von Unglücken auf mich wartet: Ich habe mich gegen die Tür gestemmt, damit sie nicht reinkommen kann. Das waren keine schönen Monate. Eine Zeit lang habe ich gedacht, es gibt keine gesegnete Zukunft mehr für mich.
Aber?
Irgendwann kam der Tag, an dem ich gemerkt hab: Ich werde wieder ich. Von da an hab’ ich, um mein Gehirn intensiv zu trainieren, ununterbrochen memoriert – die Straßen von Wien, den Text der Bundeshymne, den berühmten Wallenstein-Monolog: „Ein unsichtbarer Feind ists, den ich fürchte, / Der in der Menschen Brust mir widersteht …“ Und ich habe mich zu erinnern versucht: Wie roch es in der Küche meiner Großmutter? Wie hieß das Parfüm, das sich mein Vater jeden Morgen über den Kopf geschüttet hat? Welche Gebete hab’ ich als Ministrant sprechen müssen? Wann immer ich wach war, habe ich versucht, mir die Welt wieder zusammenzukleben. Und ich fragte mich: Was lerne ich aus all dem? Wo muss ich noch nachjustieren? Zum Beispiel: Dankbar sein! Oder: Keine Raunzerei mehr! Irgendwann habe ich dann doch die Wohnung verlassen, um spazieren zu gehen. Und vierzehn Tage später kam der heilige Augenblick, wo ich wieder gelacht hab’. Das ist mir zuerst gar nicht bewusst gewesen: Ich habe gelacht! An diesem Tag bin ich in mir hochgeklettert wie einst an diesen grauenhaften Turnseilen in der Schule. Denn ich wusste: Von da oben wirst du eine andere Aussicht haben. Also, das ist die Geschichte meiner Verwundung.
Und jetzt geht es mit Realisierungen weiter wie zuvor?
Nein. Ich hab’ ein paar Projekte abgesagt, zum Beispiel die „Fledermaus“-Inszenierung an der Zürcher Oper. Das war auch eine erstaunliche Neuigkeit. Weil ich gemerkt habe: Ich kann ruhig etwas Verlockendes absagen. Das habe ich davor nicht gekonnt.
Aber der Garten für Brixen?
Wird entstehen. Es ist alles geklärt!
Die Grünen hatten ja eine öffentliche Ausschreibung der Platzgestaltung gefordert. Dadurch kam die Umsetzung über mehrere Jahre zum Erliegen.
Die oberste Behörde in Rom traf die Entscheidung, dass, wenn ein Heller-Garten gewollt werde, man nur Heller beauftragen könne, eine internationale Ausschreibung daher keinen Sinn mache und deshalb auch nicht zu erfolgen hatte. Also arbeiten wir weiter – und im Herbst wird mit den Erdarbeiten begonnen. Wieder haben sich irgendwelche gütigen Paravent-Engel zwischen mich und die Zores gestellt.
Im September 2023 gab es ein verheerendes Erdbeben in Marokko. Wurde auch Anima in Mitleidenschaft gezogen?
Nein. Der Garten lag 40 Kilometer vom Epizentrum entfernt, aber wir blieben heil und waren beschützt. Tausende Ortschaften im Atlas wurden zerstört, weil die Häuser aus Lehm waren. Viele von meinen Mitarbeitern hatten Tote zu beklagen. Wir haben dann Geld gesammelt, um die Infrastruktur instand zu setzen. Und wir bauen gerade ein Hotel mit sieben Zelten, die miteinander verbunden sind. Sozialverträglich. Denn auf dem Weg aus oder in die Sahara mit dem Auto fragen immer wieder Reisende, ob sie über Nacht auf unserem Parkplatz stehen dürfen.
Und irgendwann hat Intendant Christoph Lieben-Seutter angerufen: „Herr Heller, ich stelle Ihnen für eine Woche die Elbphilharmonie zur Verfügung!“
Nein, er war bei mir in Wien. Aber ja: Ich kuratiere in Hamburg eine Woche lang – von 16. bis 24. März – ein Festival. Das Gebäude ist zum Niederknien, das hat mich gelockt. Und ich dachte mir: So ein Angebot kommt nie wieder! Ich habe dann ein Motto gesucht – und fand bei Karl Valentin „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“. Das entspricht dem, wie ich mich fühle. Das Festival schließt alle Menschen ein, alle Flüchtlinge, alle Glücklichen, alle Verzweifelten. Und dann habe ich begonnen, was ich schon immer sehnsüchtig mache: Leute einzuladen, die ich gern kennenlernen würde, darunter Sufi-Meister aus Pakistan, Geschichtenerzähler aus Mauretanien und so weiter. Und ich habe den genialen Songwriter Jimmy Webb gewonnen. Er hat noch nie in Europa gastiert. Von ihm ist zum Beispiel „By the Time I Get to Phoenix“ und „Mac Arthur Park“. Er rangiert in der Spielklasse von Paul Simon, singt aber fast nie selbst. Doch in Hamburg wird er auftreten. Das freut mich unsäglich.
Der offizielle Titel der „Woche des Staunens“ lautet „Reflektor André Heller“. Sie haben auch viele Österreicher eingeladen: Xenia Hausner, die für Sie in Berlin als Bühnenbildnerin tätig war, steuert eine Rauminstallation bei, Andrea Eckert gastiert mit dem Maria-Callas-Abend „Meisterklasse“ – und Sie selbst präsentieren „Die Besten aus Wien“, darunter Anna Mabo, Voodoo Jürgens, Ernst Molden, Tini Kainrath, Marco Wanda.
Und auch Harri Stojka! Er musiziert und erzählt Robert Rotifer die Geschichte seines Vaters im KZ. Ihm zu Ehren gibt er ein sicher fulminantes Solokonzert. Insgesamt gibt es bei dem Festival 25 Acts, darunter auch recht eigenartige, zum Beispiel den Auftritt des Chors der schreienden Männer aus Finnland: 20, wie aus dem Männerheim entsprungene, wenig vertrauenswürdige Herrn schreien Bauanleitungen für Ikea, Beipackzettel von Medikamenten und den Text der Bundeshymne von Gabun.
Und bei Zsolnay wurde Ihr Erstlingswerk „Schattentaucher. 61 Beschreibungen aus dem Leben des Ferdinand Alt“ wiederveröffentlicht. Aber ein „Roman“ sind diese kurzen Geschichten in meinen Augen nicht.
Die Geschichten hängen alle zusammen und ergeben insgesamt eine große Geschichte. Der Verleger dürfte sich gedacht haben, dass man so etwas „Roman“ nennen kann. Das Buch ist ein Dokument über die 1970er- und 80er-Jahre in Wien – samt all den Künstlern, die sich gegenseitig den Untergang gewünscht haben und sich selbst die Triumphe. Damals gab es wirklich merkwürdige Figuren, darunter den Erfinder des Universallateins, die sich alle im Hawelka getroffen haben.
Das Café heißt bei Ihnen „Stern“. Und Ihr Held heißt Ferdinand – wie Ihr Sohn.
Mein Lieblingsname wegen Ferdinand Raimund, den ich so schätze. 1988 kam mein Sohn zur Welt. Wir dachten eigentlich, dass es ein Mädel wird. Die hätte dann Lily geheißen. Jetzt heißt das dritte Enkerl, ein herzzerreißend wunderbares Mädel, Lily. Ich wollte den Kindern – es gibt noch die Buben Kiwi und Lucky – der Vater oder Großvater sein, den ich gerne selbst gehabt hätte.
Denn Ihr Vater, Stephan Heller, war ein Despot oder gar Tyrann. In Ihrem Buch „Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“ haben Sie über ihn geschrieben: Sie konnten beim Begräbnis keine Trauer heucheln.
Mit Ferdinand ist alles anders. Er ist mein engster Vertrauter und mein bester Freund. Meine Familie versetzt mich in einen Dauerliebesrausch. Ich bin jeden Morgen erstaunt, dass diese Geschöpfe tatsächlich wahr sind.
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