Israelischer Regisseur Gitai: "Menschen werden ignoranter und damit unmenschlicher"

Amos Gitai ist einer der produktivsten Regisseure unserer Zeit und vielleicht auch einer der innovativsten. Und er zählt zu den bekannten Stimmen der israelischen Öffentlichkeit. Er eckt er mit seinen Filmen immer wieder an, indem er die Gewaltgeschichte seines Landes hinterfragt. Die politischen Mythen der Linken wie der Rechten, der Israelis und der Palästinenser. Es war ein Helikopterabsturz über Syrien – Gitai war im Jom-Kippur-Krieg als Sanitäter im Dienst –, dem er die Erkenntnis verdankte, wie rasch man „vom Retter zum Opfer wird“. Die Inspiration für ihn als Filmemacher war die Hoffnung, dass er damit so etwas wie Picasso mit dem Bild „Guernica“ sein könnte: Ein Zeuge von Verbrechen gegen die Menschheit.
Dieser moralische Anspruch ist insbesondere in Gitais politischen Filmen spürbar. Wie in „Rabin, the Last Day“, der die Ermordung des Ministerpräsidenten am 4. November 1995 durch einen religiösen Fanatiker nachzeichnet. Derzeit probt Amos Gitai am Burgtheater eine Bühnenversion dieses Films, die am 4. Mai Premiere hat und danach noch einmal am 5. Mai gezeigt wird. Darüber hinaus zeigt das Österreichische Filmmuseum in Wien den Großteil seines filmischen Gesamtwerks vom 2. Mai bis 1. Juni – in einer der umfassendsten Retrospektiven, die je von Amos Gitais Werken veranstaltet wurden. Und in Salzburg zeigt Thaddaeus Ropac noch bis 11. Mai die Schau „War Requiem“ mit Werken des Künstlers.
Für die Burgtheater-Proben von Amos Gitai steht ein Flügel auf der weiten Bühne - und ein großer Tisch mit zwei Mikrofonen. Wie ein Oratorium inszeniert er seine Hommage an den 1995 ermordeten Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin. Vier Frauen stehen für die 2000 verstorbene Witwe des Ermordeten. Unterbrochen von den musikalischen Interventionen teilen sich die Schauspielerinnen Bibiana Beglau und Dörte Lyssewski die Lektüre von Leah Rabins Erinnerungen. Amos Gitaï weist in diesem Requiem zurück auf den Moment eines historischen Umbruchs in der Geschichte Israels und legt den Finger in eine Wunde, die seitdem nicht mehr verheilt.
Seit dem 7.Oktober scheinen ihm aber die Möglichkeiten seines künstlerischen Engagements beschränkter denn je, weil die Barbarei der Hamas nicht nur gegen Zivilisten und israelische Frauen gerichtet war, sondern auch anti-palästinensisch: Weil sie die einzig mögliche Perspektive einer Lösung - den Dialog zwischen den Völkern - zerstörten.

KURIER: Sie haben Ihre Zustimmung zur Retrospektive und zu Ihrer Burgtheater-Inszenierung schon vor den Ereignissen des 7. Oktober gegeben. Wie wäre Ihre Entscheidung ausgefallen, wenn man Sie erst danach gefragte hätte?
Amos Gitai: Sie wäre genauso ausgefallen, weil sich mein Beitrag und meine Meinung zum israelisch-palästinensischen Diskus nicht geändert hat, seit ich vor 43 Jahren meinen ersten Film drehte. Ich werde mich weder dem Druck israelischer Nationalisten beugen noch dem der fanatischen Palästinenser. Ich möchte nicht in den Fehler verfallen, einer der beiden Seiten vorbehaltlos recht zu geben, wie es derzeit viele Länder tun. Auch in Europa. Wir stehen gerade vor einer Europawahl und müssen mitansehen, wie sich ultra-rechte Bewegungen immer mehr ausbreiten. Diese smarten Europäer mit ihren Mozarts, Shakespeares, Goethes haben sich nach vielen Kriegen letztlich doch darauf einigen können, dass es nicht nötig ist, einander umzubringen. Das wäre eine Botschaft, die sie verinnerlichen und weitergeben sollten. Wir müssen alles tun, um den Dialog aufrecht zu erhalten.
Vor etwa 25 Jahren stand Vanessa Redgrave mit deinem Palästinenser-Tuch bei einer Oscar-Verleihung auf der Bühne. Damals gab es Applaus und Buh-Rufe gegen die PLO aus dem Publikum. Bei der diesjährigen Berlinale gab es bei einer ähnlichen Szene nur Applaus und keine Buhs gegen die Hamas. Worauf führen Sie das zurück?
Das liegt unter anderem daran, dass die Menschen immer mehr unter den Einfluss der sozialen Medien geraten. Ich würde diesen Mischmasch aus News, Fake News, Ignoranz und Verschwörungstheorien eher als un-soziale Medien bezeichnen. Es liegt eine geradezu unvorstellbar große Gefahr darin, dass sich Menschen nicht mehr informieren – schon gar nicht über Fakten oder Meinungen von beiden Seiten. Stattdessen wollen sie durch gleichgesinnte und gleichgeschaltete Medien nur mehr ihre eigenen Vorurteile bestätigen lassen. Die Menschen werden ignoranter und damit auch unmenschlicher. Wie etwa der Student, der vor einigen Tagen an der amerikanischen Columbia-Universität schrie, dass er gerne alle Juden umbringen würde. Ich hoffe, dass wir nicht in dieser giftigen Brühe von Fake News untergehen. Dass wir hier am Burgtheater die Folgen einer tödlichen Indoktrinierung auf die Bühne bringen können, ist gegen die Brutalität der Verschwörungstheoretiker nur eine winzige Geste. Aber gute Kunst ist keine Massenausspeisung und kann daher nur kleine Happen zur geistigen Nahrung beitragen. Aber die so oft wie möglich.

Man kann immer wieder beobachten, wie sich Kreise schließen. Wie etwa wenn bei der Israel-Kritik der Ultra-Linken genauso viel Antisemitismus durchklingt wie bei der Ultra-Rechten. Da stehen links und rechts in einem teuflischen Kreis Schulter an Schulter. Wie sehen Sie das?
Das ist leider nichts Neues. Ich bin gerade dabei, mit einem österreichischen Produzenten einen Film über die Briefe meiner Mutter vorzubereiten. Sie war vor rund 100 Jahren hierher nach Wien gekommen, weil sie Persönlichkeiten wie Sigmund Freud und Gustav Klimt kennenlernen wollte. Sie war begeistert von der weltoffenen Atmosphäre der damaligen Donau-Metropole, hat hier aber dann auch den Beginn des Nationalsozialismus erlebt. Auch damals kam der Antisemitismus von der rechten Seite genauso wie von der linken. Meiner Mutter kam damals Hitler fast weniger gefährlich vor als die Kommunisten und Sozialdemokraten. Und nun stehen wir offenbar wieder vor den Anzeichen so einer Zeit. Das ist alles andere als beruhigend.
Amos Gitai ist als künstlerischer Chronist unserer Zeit stets unbequem und herausfordernd. In 40 Jahren sind über 60 Dokumentar- und Spielfilme entstanden. Nachdem sein erster Film vom staatlichen Fernsehen in Israel zensuriert wurde, kehrte er seiner Heimat den Rücken. Erst nach der Wahl Jitzchak Rabins zum Ministerpräsidenten im Jahr 1992 kam er nach Israel zurück.
Seine Filme bieten immer wieder neue Einblicke. Nicht nur ins Landesinnere von Israel, sondern auch in menschliche Befindlichkeiten ganz allgemein. Fast wäre er Architekt geworden wie sein Vater Munio Weinraub – ein Bauhaus-Schüler, der vor den Nazis nach Palästina geflüchtet war. Stattdessen ist Gitai zum Geschichtenerzähler geworden. Weil er mit seinen Filmen die Mauern zwischen Menschen einreißen kann, anstatt welche zu errichten.
Heute lebt er zwischen Frankreich und Israel ein Nomadendasein, das ihm ermöglicht, den Nahost-Konflikt gleichermaßen von innen wie von außen zu sehen.
Sie haben in früheren Interviews am Ende immer wieder betont, dass Sie trotz allem ein Optimist wären, der letztlich an das Gute im Menschen glaubt. Haben Sie diesen Optimismus verloren?
Ich bin ein Optimist. Immer noch. Aber nicht wie mir Elie Wiesel einmal gesagt hat: „Die Pessimisten meiner Familie sind zu Beginn der Nazi-Herrschaft nach New York geflüchtet. Die Optimisten wurden nach Auschwitz gebracht.“ Ich bin ein Optimist, weil ich schon gar nicht an Nihilismus und Determinismus glaube. Alles, was ich sehe, stimmt mich pessimistisch, aber man muss die Energie behalten, um einen Ausweg zu finden. Die Geschichte unserer Zukunft ist noch nicht geschrieben und vielleicht können wir daran mitschreiben.
Könnte die Zukunft eine Zweistaatenlösung für Israel bringen?
Ich glaube fest daran, dass beide Gruppen ein Recht auf das Leben in einem Land haben, in dem sie sich zu Hause fühlen können. Das klingt nach einer Utopie. Aber denken Sie an Europa. Aus der Zweckgemeinschaft der Länder ist bis heute keine Liebesbeziehung geworden und wird es vielleicht nie. Aber solange der Zweck der Gemeinschaft ein friedliches Miteinander ist, kann Europa gut funktionieren.
Wie kann sich ein friedliches Miteinander in Israel ergeben?
Ein erster Schritt wäre die Abwahl von Netanjahu. Er ist ein Manipulator, der die Stimmung in Israel vergiftet. Ich kann nur hoffen, dass jemand auftaucht, der die Flamme von Jitzchak Rabin weiterträgt. 2025 ist es genau 30 Jahre her, dass er ermordet wurde und daran erinnert der Eröffnungsfilm der Retrospektive und meine Inszenierung am Wiener Burgtheater. Ich hoffe dass damit zumindest ein Funke für diese Flamme eines friedlichen Miteinanders entzündet werden kann.
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