Alfred Kirchner: "Gauland und Strache haben keine Streitkultur"
Er hat mit vielen seiner Inszenierungen Theater- und Operngeschichte geschrieben, hat sich auch zu tagesaktuellen Ereignissen nie den Mund verbieten lassen, war in Österreich (Burgtheater, Staatsoper und Wiener Festwochen) ebenso tätig wie auf deutschsprachigen und internationalen Bühnen: Alfred Kirchner, der mittlerweile 82-jährige Schwabe, hat nun mit seinem Buch „Der Mann von Pölarölara“ überaus lesenswerte – wie er es bewusst selbst nennt – „autobiografische Splitter“ vorgelegt (Hollitzer Verlag, Anm.), die auch Schlaglichter auf die Gesellschaft allgemein werfen.
KURIER: Herr Kirchner, wie kam es zu dem „Mann von Pölarölara“?
Alfred Kirchner: Der Mann von Pölarölara wurde geboren, als ich vier Jahre alt war. Auch als Schutz gegen meine ältere Schwester Lieselore, von allen nur Lilo genannt, die beim Schweizer Geheimdienst eine Karriere gemacht hat. Das aber habe ich erst viel später erfahren. Lilo war immer stark, der kleine Alfred nicht, aber der Mann von Pölarölara durfte alles, auch ungehörig sein.
Daher der Titel Ihres Buches?
Ja, denn Pölarölara hat auch den späteren Alfred Kirchner immer begleitet. Er kam hervor, wenn ich als Regisseur einmal nicht weiter wusste, wenn irgendwelche Populisten – egal, ob von rechts oder von links – wieder einmal laut geschrien haben. Da hatte der Schwabe, der auch lustige Mann von Pölarölara stets seine Auftritte in meinem Kopf. Quasi als Gegenmodell zur Weltsituation.
Sie spielen in Ihrem Buch mit den beiden Alter Egos Alfred und Pölarölara – der berühmte Regisseur ist Alfred, der die jeweilige Zeit bestaunende ist Pölarölara . . .
Ich wollte ja keine Autobiografie im klassischen Sinn schreiben, also habe ich da bewusst diese zwei Ebenen eingeführt.
Der Intendant
Alfred Kirchner wurde am 22. Mai 1937 in Göppingen/Deutschland geboren und zählt zu den bedeutendsten Künstlern der Gegenwart. Kirchner war u. a. Mitglied im Direktorium am Staatstheater Stuttgart unter Claus Peymann, am Schauspielhaus Bochum und für kurze Zeit am Wiener Burgtheater. Als Teil der so genannten „Viererbande“ übernahm er mit drei anderen Kollegen auch die Leitung der Staatlichen Schauspielbühnen Berlin bis zu deren finanziell bedingter Schließung im Jahr 1993.
Der Regisseur
Kirchner inszenierte Theater und Oper von Wien bis Bayreuth, von New York bis zu den Festspielen Reichenau.
Sie schildern sehr offen Ihre Kindheit, die Bombenangriffe auf Nazi-Deutschland, die Zeit in Ihrer Geburtsstadt Göppingen, Ihre Kinderlähmung und dann Ihren Weg an die Spitze des Theaterlebens.
Ein Schwabe darf so was! Aber im Ernst: Ich wollte ein paar Einblicke in die Welt der Kultur, der Bühne geben. Wie hier die Arbeit funktioniert. Oder wie auch nicht.
Ein gutes Beispiel dafür ist Ihre inzwischen legendäre Inszenierung von Modest Mussorgskys „Chowanschtschina“ 1989 an der Wiener Staatsoper, mit Claudio Abbado am Pult und mit Nicolai Ghiaurov ...
... der einer der besten Sänger der Welt war und mit Mirella Freni, eine der berühmtesten Sopranistinnen aller Zeiten, verheiratet war. Ghiaurov glaubte daher, er müsse nicht zu den Proben kommen. Also schrieb ich ihm ein Telegramm – das gab es damals noch. Sinngemäß erklärte ich darin, dass selbst ein Burt Lancaster oder ein Jean Gabin zu Proben kämen. Aber Mirella löste ein großes Theater aus. Letztlich jedoch kam Ghiaurov. Da hat auch der Mann von Pölarölara sehr gelacht.
Das Lachen hat sich der Mann von Pölarölara auch in Stuttgart, Bayreuth oder Wien immer bewahrt?
Es war nicht immer einfach. Bayreuth ist sehr speziell, aber dort Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ inszenieren zu dürfen, war für mich eine große Auszeichnung. Und Stuttgart, Wien, Berlin und naturgemäß Claus Peymann haben mich geprägt. Mit Peymann konnte man übrigens herrlich streiten. Auf einem ganz hohen Niveau. So etwas geht etwa mit einem Herrn Gauland von der AfD, einem Herrn Strache oder anderen Marktschreiern überhaupt nicht. Die haben keine Streitkultur.
Sie haben sich stets für zeitgenössische Autoren eingesetzt und haben Stücke von Martin Walser, Thomas Bernhard, Heiner Müller, Peter Turrini oder Herbert Achternbusch zur Uraufführung gebracht. Wie sehen Sie eigentlich die aktuelle Situation am Theater?
Man kann gar nicht genug Zeitgenössisches auf die Bühne bringen. Die aktuellen Autoren vertreten ja – abgesehen von den großen Klassikern, die einfach eine Allgemeingültigkeit haben – die heutige Welt, unsere Gegenwart. Wen ich sehr vermisse, das ist Bert Brecht, der gerade in Zeiten eines Donald Trump oder eines Boris Johnson und der Fake News eine ungeheure Aktualität hätte. Kunst ist immer politisch!
Das Theater aber scheint ein wenig in der Krise zu sein. Es gehen nur die Menschen hin, die ohnehin für alle dort gebrachten gesellschaftskritischen Botschaften offen sind.
Das ist eines der Hauptprobleme. Das Theater hatte noch zu Zeiten eines Peter Zadeks, der mich extrem beeinflusst hat, auch eine soziale Funktion. Man ging bewusst gemeinsam in eine Aufführung, um gemeinsam eine vielleicht sogar gedanklich interessante Produktion zu erleben, um eine Geschichte erzählt zu bekommen. Heute – und ich will jetzt nicht wie ein alter Mann klingen – versucht das Theater, alles in einer Bilderflut zu ertränken. Aber ehrlich: All diese Videos, dieses rein Visuelle – Theater kann die neuen Medien nicht überholen. Theater hat ganz andere Qualitäten. Jene der Sprache und jene des Nachdenkens. Darum sollte es heute wieder ein bisschen mehr gehen.
Und was sagt der Mann von Pölarölara dazu?
Der hat noch viel zu sagen, denn der lacht ja nur, seit er nach seiner Geburt Spaghetti auch vom Fußboden essen durfte. Aber im Ernst: Ein neues Miteinander wäre nicht nur in Krisenzeiten schön. Ich sehe das bei meinem Enkelkind. Da ist so viel an Hoffnung, an Neugier auf die Welt und auf den Kinderbrei, den ich ihm verabreiche! Thomas Bernhard hätte das wohl eine Weltkomödie genannt. Eine Weltkomödie im kleinen, in der Familie. Und Bernhard war kein Familienmensch!
Haben Sie wieder Lust, zu inszenieren? Und wenn ja, welches Stück wäre denn passend?
Die Lust ist schon da. Aber irgendwie glaube ich, dass sich eventuell der Mann von Pölarölara noch einmal zu Wort melden will. Es sind nur Splitter, die in diesem Buch seine Existenz belegen. Der kann aber mehr. Und er ist frei in seinem Denken und in seinem Tun.
Eine geistige Freiheit, die heutzutage gefährdet ist?
Das war sie immer. Aber solange Menschen erkennen, dass wir eine Gemeinschaft sind, dass uns Kunst und Kultur das Über-Leben ermöglichen, ist alles drinnen. Ich glaube daran, denn ich bin ein unverbesserlicher Optimist, der kritisch nur nach vorne schaut. Und zwar immer mit dem Lächeln von Pölarölara.
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