Nun begibt sich Serra, der kompromisslose katalanische Film-Avantgardist, mit seiner Kamera in die Stierkampfarena. In seiner Dokumentation „Tardes de Soledad“ begleitet er den peruanischen Star-Matador Andrés Roca Rey bei seinen Auftritten in spanischen Arenen. Zeigt ihn beim Ankleiden und Sich-Sammeln vor dem Stierkampf, konzentriert im Auto.
Blut und Schweiß
Nie, so hat man das Gefühl, war man so nahe dran, noch nie hat man den Schweiß des Toreros und das Blut des Stiers so gerochen wie hier. Serra liefert seine verlässlich guten Bilder und durchbrach dafür sogar eines seiner eisernen Prinzipien: „Ich sehe mir nie, wirklich niemals Aufnahmen meiner Filme an, bevor ich sie abgedreht habe. Außer bei diesem. Hier betraten wir Neuland, wir mussten erst lernen, wie wir die Kamera platzieren. Bei jedem Kampf machten wir bessere Bilder und fanden immer bessere Frames. Wir blendeten das Publikum in der Arena aus und konzentrierten und nur auf Andrés und das Tier. Ich wollte dieses strenge, grausame Ritual des Tötens, das nicht mehr in unsere moderne westliche Wertewelt passt, sichtbar machen. Ganz nah ran gehen. Nicht nur physisch mit Close-ups, auch spirituell.“
Stierkämpfe seien für ihn Tradition und Kindheitserinnerung. Nichts, was ihm gefällt, aber auch nichts, was er verbieten würde: „Schon als kleiner Bub bin ich mit meinem Vater in Barcelona zu Kämpfen gegangen.“ Mittlerweile seien in Katalonien alle Arenen geschlossen. „Bei den Jungen ist Stierkampf unten durch. Er wird in Spanien mit rechter Politik assoziiert.“
Stierkämpfe seien aber eine große Industrie: „Viele Menschen leben davon, und es bringt viel Geld.“ Die emotionslose Sicht Serras ist auch in „Tardes de Soledad“ spürbar. Andrés Roca Rey und er haben sich nicht viel zu sagen. Sie machen einfach das, was sie am besten können und dulden sich gegenseitig. Wie es eben so ist, wenn zwei Männer mit Riesen-Egos aufeinandertreffen, sich von niemandem etwas sagen lassen. „Er hat mich ignoriert“, sagt Serra tonlos, wenn man ihn auf Rey Roca anspricht. Der Star-Torero gefiel sich am Ende angeblich nicht im Film. Alphatiere auf Kollisionskurs.
Serra ist ein Besessener, er sei „besessen von Bildern“: „Die Hauptarbeit ist das Editing – der Schnitt und die Bearbeitung. Bei ,Pacifiction‘ arbeiteten drei Cutter neun Monate ohne Pause in einem Haus in Marseille, wo uns die Produktionsfirma untergebracht hatte. Neun Monate ohne freie Tage. Das war so intensiv, dass da fantastische und subtile Bilder rauskommen mussten.“ Für ihn sei das Obsessive der einzige Weg, seine Vision umzusetzen: „Kein anderer macht das auf einem so extremen Level.“
Seine nächste Obsession? „Gott sei Dank wieder ein fiktionaler Film. Ich habe schon alles im Kopf. Der Film wird sich um die Rivalität zwischen Russland und den USA drehen. Die zentrale Frage wird sein, ob es gut ist, dass es ein starkes Russland gibt. Ist das gut für die Welt? Und: Wäre es umgekehrt gut, wenn nur die Amerikaner das Sagen in der Welt hätten?“
Macht er eigentlich noch Theater, von dem er ja ursprünglich kommt? Serra wird emotional: „Nicht mehr! Meiner Meinung nach gibt es beim Theater drei Probleme. Erstens: Du sagst den Schauspielern, wie sie etwas machen sollen, und in dem Moment, wo sie die Bühne betreten, hast du keinerlei Kontrolle mehr über sie. Sie wollen, dass das Publikum sie liebt, und machen nur das, was sie wollen. Zweites Problem sind die Bühnentechniker. Typische Bürokraten mit fixen Zeitplänen, die nie zwei Stunden länger arbeiten würden.“
Kritik am Publikum
Das dritte Problem seien die Zuschauer: „Es ist praktisch unmöglich, dass man als Regisseur etwas zeigt, das das Publikum nicht so mag oder – Gott behüte – nicht versteht. Das es schockiert oder beleidigt. Die Leute wollen nur Konventionelles sehen. Langweiliges, politisch Korrektes. Total uninteressant.“
Wien ist übrigens – nicht nur zu Viennale-Zeiten – eine von Serras Lieblingsstädten neben Barcelona und Paris, wo er lebt, und Mailand. „Ich mag das, dass die Menschen hier noch Zeitungen lesen und Kultur wertschätzen.“
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