Johannas Fest: Gemeinsam ist man weniger allein

Die Familie ist die kleinste Zelle der Gesellschaft, der Familientisch somit die Wiege der Gastlichkeit.
Johanna Zugmann

Johanna Zugmann

Virtuelle Verabredungen mögen die neue Form von Geselligkeit sein – das gemeinsame Essen ersetzen sie nicht. In der Anthropologie des 18. Jahrhunderts galt: Es gibt nichts, das so viel wahre Humanität verkörpert wie das gemeinsame Essen; reinstes Labsal für Körper, Geist und Seele! Miteinander zu speisen vermittelt Freude, Geborgenheit und Sicherheit. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul bezeichnet die gemeinsame Mahlzeit gar als das vielleicht stärkste Symbol der Liebe in unserer Kultur. Das gilt natürlich nur für Mahlzeiten in intakten Gemeinschaften und einem entsprechend entspannten Ambiente.

Gastlichkeit ist eine der ältesten kulturellen Errungenschaften der Menschheit. Die Familie ist die kleinste Zelle der Gesellschaft, der Familientisch somit die Wiege der Gastlichkeit. Aber abgesehen von den vergangenen Monaten, in denen Distance Learning und Homeoffice den Alltag bestimmten, erfahren immer weniger Menschen die gemeinsame Mahlzeit als eine fixe Institution im häuslichen Privatleben. Veränderte Formen von Familie und Zusammenleben haben die Bedeutung gemeinsamer Mahlzeiten geschwächt. Informalisierung, Deregu- lierung, Bequemlichkeit und Schnelligkeit haben unser Essverhalten grundlegend verändert. In vielen Familien ernähren sich die einzelnen Mitglieder zunehmend asynchron, selbst dann, wenn alle zur gleichen Zeit unter einem Dach weilen: Jeder nimmt sich aus dem Eisschrank, worauf er gerade Lust hat, schiebt es in die Mikrowelle und stillt seinen Hunger oft allein vor dem Laptop, Gameboy oder TV-Gerät.

Sozialer Akt

Diesen „Eigenbrötlern“ entgeht der Mehrwert vom Nährwert: Essen im Familienkreis beinhaltet im Idealfall den Austausch von Erlebnissen, von Neuigkeiten, von Befindlichkeiten, das Loswerden von Sorgen und das Erhalten von Trost und Zuneigung. Es ist Unterhaltung, Therapie, stärkt den Zusammenhalt, vermittelt Nähe und gibt Identität.

Menschen sind soziale Wesen und Sozialverhalten wird auch am gemeinsamen Esstisch erlernt. Am Familientisch lernen Kinder zu teilen, auszuteilen, sich im Tischgespräch mitzuteilen und Anteil zu nehmen. Und das 1 x 1 der Tischmanieren.

„In Zeiten der Single-Haushalte und der desynchroni- sierten Arbeitszeiten bleibt man allein am Tisch oft sozial hungrig, und die Identitätsvergewisserung, die sich einstellt, wenn man mit anderen etwas isst, fällt beim Zwischendurch-Essen weg“, konstatiert die Kultur-Historikerin Gabriele Sorgo.

Nach der Devise „relate to“ statt „related to“ tut sich eine innovative Welt der Tischgesellschaft auf und es bilden sich neue Mahlverwandtschaften

– Und wenn man keine Familie hat oder diese anderswo lebt?

Der gefeierte Opernsänger Michael Schade lebt mit seiner Frau Dee McKee in Europa und Kanada. Aus früheren Ehen haben beide Kinder, zusammen kommen sie auf acht. Ist der berühmte Tenor auf einer der internationalen renommierten Bühnen weit weg von seinen Lieben, wird in der Regel eine gemeinsame Mahlzeit per Skype organisiert und konsumiert.

Singles hingegen können sich auf einer der Internet-Plattformen wie eatwith.com oder anderen Mitesszentralen umschauen, dabei in privatem Ambiente neue kulinarische Genüsse erfahren und auf Seelenverwandtschaft statt auf genetische Bande setzen. Nach der Devise „relate to“ statt „related to“ tut sich eine innovative Welt der Tischgesellschaft auf und es bilden sich neue Mahlverwandtschaften. Das ist durchaus positiv, denn gemeinsam isst man schließlich weniger allein.

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