Ein funkelnder Stern unter den Elenden

Ein funkelnder Stern unter den Elenden
Erinnerung an eine ganz besondere Freundin meiner Kindheit, die schon damals auf vieles verzichten musste.
Laila Docekal

Laila Docekal

In meiner Kindheit hatte ich eine ganz besondere Freundin. Katharina war wie ein funkelnder Stern. Wir waren zusammen im Kindergarten und schon damals konnte sie mich mit fantastischen Geschichten mitreißen. Wir gingen später in unterschiedliche Schulen, aber blieben in Kontakt – was gar nicht so einfach war, denn meine Freizeit war dicht verplant: Ich war montags beim Tennis, dienstags hatte ich Klavierunterricht, mein Zeichen- und Maltalent stellte ich Donnerstagnachmittag auf die Probe und den halben Samstag hatte ich Persisch-Unterricht, wo ich lernte, auf Farsi zu Schreiben und zu Lesen. Da blieb nicht viel Zeit für Freunde.

Die Nachmittage mit Katharina waren rar, aber an die Eindrücke kann ich mich lebhaft erinnern. Ihr Zimmer war voll mit Postern aus dem Musical Les Misérables und sie zitierte aus der Geschichte, als wäre es ihr eigenes Leben. Ich sehe heute noch das Leuchten in ihren Augen, während sie das Leid von Cosette nachstellt und mit Tränen in den Augen emporblickt ... und im nächsten Moment aufspringt, um mit einer Tanzszene durch den Raum zu schweben. Katharina träumte von einer Karriere als Ballerina, sie hatte sich in ihrem Zimmer eine Art Ballettstange eingerichtet, um zu Hause proben zu können. Ihre Eltern waren meist arbeiten und so hatte sie nachmittags viel Zeit. Um sich ihre Videokassette von Les Misérables anzusehen. Oder um Choreografien daraus nachzustellen.

Ich habe Victor Hugo erst Jahre später gelesen. Katharina und ich hatten uns inzwischen aus den Augen verloren – wie das in Zeiten vor sozialen Medien eben üblich war. Ich habe nie erfahren, ob sie sich ihre Träume erfüllen konnte. Doch erst beim Lesen realisierte ich, wie sehr sie sich mit Cosette identifiziert haben muss.

Ich denke dieser Tage oft an Katharina. In diesen herausfordernden Zeiten hätten meine Eltern mich vielleicht in einen oder zwei Kurse weniger geschickt (was mir nicht unrecht gewesen wäre). Doch ich mag mir nicht ausmalen, worauf Katharina noch hätte verzichten müssen.

laila.docekal@kurier.at

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