„Nur die Kinder gehen mir ab“

„Nur die Kinder gehen mir ab“
Einsamkeit ist unsichtbar, so wie das Virus. Und sie tut weh.
Birgit Braunrath

Birgit Braunrath

Das neue gesellschaftliche Zauberwort heißt Disziplin. Und dagegen sträubt sich im Beagle so ungefähr alles, vom Nackenhaar bis zu den Zehen.

Daria hat wahrscheinlich mehr positive Eigenschaften als Eigenschaftswörter in diese Kolumne passen. Aber eines ist sie ganz sicher nicht: diszipliniert. Der Beagle haut gern ab, ist stur und unbelehrbar – man könnte dazu auch sagen: mobil, eigeninitiativ und fokussiert.

Aber ... ja, wir sind diszipliniert und halten die sogenannten Maßnahmen ein. Diese Disziplin scheint Daria sogar zu gefallen. Denn alle sind ständig um sie herum, was für einen Meutehund wie Weihnachten und Ostern gleichzeitig ist. Andauernd wird gekocht und gebacken. Da fällt immer etwas unbemerkt runter.

Sagen wir so: Unsere persönliche Disziplin ist keine Kunst. Nichts, worauf wir stolz sein dürfen. Denn mit wenigen Schritten sind wir zu Fuß im Grünen; Wohlstand haben wir schon vor Corona in Verbundenheit und nicht in Vermögen gemessen; wir sind zu viele, um daheim einsam zu sein, und zu wenige, um einander auf die Zehen zu steigen; wir haben gesunde Eltern und allen Grund, dankbar zu sein. Wer also sind wir, um über andere zu urteilen?

Jeder tut, was er kann

Daria und ich werden auf einem holprigen Waldweg beinahe von einem Radler überfahren. Nichts zu schimpfen, es ist ja nichts passiert. Wenig später sitzt der Mann auf einem Baumstumpf, hält das Handy an den Radlerhelm und freut sich wie ein Schneekönig: „Schön, dass du anrufst! Die Enkelkinder sind zwar ständig am Handy, seit sie eines haben, aber leider nicht mit mir. Mir fällt die Decke auf den Kopf.“

Oder die alte Dame, die auf der Parkbank in der Sonne sitzt? Muss man die wirklich heimschicken? Auch sie telefoniert. Im Vorbeigehen hören Daria und ich, wie sie sagt: „Es geht mir gut, nur die Kinder gehen mir ab, und die Sonne.“ Müssen wir jetzt den Mann abmahnen, der die Dame gerade unhöflich auffordert heimzugehen? Andererseits: Wer weiß, was der gerade durchmacht? Blockwart heißt das neue Allroundschimpfwort für selbst ernannte Ordnungshüter. Es stammt aus der NS-Zeit. Wir sollten es dort lassen. Und dem Herrn Parkwächter ein Lächeln schenken. Vielleicht geht es ihm zu Herzen. Jeder tut, was er kann, in diesen Tagen. Das sollten wir immer im Auge behalten.

Kommentare