Barbara Kaufmann: Wenn man nicht weiter weiß
Manchmal, wenn man nicht mehr weiter weiß, ist es das Beste, sich einfach ins Gras zu legen und den Himmel zu betrachten. Wie sich die Wolken ineinander schieben und wieder auseinander gleiten. Wie sie an manchen Stellen dichter werden und so bleiben, minutenlang. Wie unbeeindruckt der Himmel davon ist, dass man nicht weiter weiß. Keine Ahnung hat, was werden wird und ob es wird.
Davon, dass man nur daliegen kann, abwarten und aushalten, dass da niemand ist, der jetzt Klarheit schafft. Der Anweisungen gibt oder Prognosen stellt, nach denen man sich richten könnte. Dass etwas passiert ist, womit man nicht gerechnet hat, das alle Pläne durchkreuzt und einen dazu zwingt, alles neu zu ordnen. Neue Prioritäten zu setzen und alte Glaubenssätze zu begraben. Sich auf nichts mehr verlassen zu können, was gestern noch gegolten hat.
Kein schöner Zustand
Das ist nicht einfach, wenn da nichts ist, das einem Halt geben könnte. Kein Gott, kein Guru, kein Buch, in dem alle Antworten stehen. Bloß Ahnungslosigkeit und das dumpfe Gefühl, handeln zu müssen. Irgendetwas tun zu müssen, ohne recht zu wissen, was. Das ist kein schöner Zustand. Das ist die Hilflosigkeit, aus der sich Angst und Sorge speisen. Darauf war man nicht vorbereitet, denkt man sich trotzig und sieht das Schicksal wütend an, das war nicht ausgemacht.
Ich habe in den letzten Wochen viele Stunden in Wartezimmern verbracht. In Wartezimmern gehorcht die Zeit anderen Gesetzen. In Wartezimmern sind alle ratlos und müssen damit umgehen, nichts zu wissen. Die Patienten, die auf ein gutes Ende hoffen, die Angehörigen, die sie begleiten. In Wartezimmern spricht man nicht gerne von der Zukunft. In Wartezimmern ist immer Jetzt.
Trösten und leiden
Man reicht sich gegenseitig abgegriffene Illustrierte. Man lächelt Fremden zu. Man muntert Menschen auf, die man nicht kennt. Und tröstet sie und lässt sich trösten, weil man sich selbst nicht trösten kann. Man freut sich mit jenen, die gute Nachrichten erhalten. Und leidet mit denen, die nicht mehr weiter wissen.
„Grief is the price we pay for love“, fällt einem ein. Trauer ist der Preis, den wir dafür bezahlen, nicht allein zu sein. Unsicherheit, Angst und Sorge um jene, die uns am nächsten stehen. Ich hasse Wartezimmer. Ich hasse die Hilflosigkeit. Ich hasse es, nichts tun zu können, nur tatenlos da zu sitzen, vertieft in Prominentenklatsch. Heidi Klum hat einen neuen Freund, Boris Becker hat sich getrennt, Prinzessin Madeleine hat ein Baby. Lilly Becker hat abgenommen. Madonnas Sohn ruft nie an. Cameron Diaz wünscht sich ein Kind.
Hoffen und warten
Diesmal ist es gut ausgegangen. Aber ich werde wohl noch öfter in Wartezimmern sitzen. Ich werde in Krankenhäusern anrufen und mit Nachtschwestern reden. Ich werde in Illustrierten blättern und Automatenkaffee trinken. Und Fremden dabei zusehen, wie sie umeinander bangen, hoffen und warten so wie ich.
Denn was wäre die Alternative? Zu flüchten, fortzulaufen, allein zu sein. Sich los zu reißen von Familie, Freunden, Partnern. Von jenen, die einem alles bedeuten. Dann ist es doch besser, sich manchmal ins Gras zu legen und den Wolken dabei zuzusehen, wie sie sich ineinander schieben. Vielleicht, weil sie es auch nicht besser wissen.
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