Barbara Kaufmann: Davon wird das Meer nicht größer
Ich sitze am Fenster in Wartezimmer einer Zahnarztpraxis und blicke aufs Meer. In der Ferne liegt ein weißer Sandstrand. Da draußen sollte ich jetzt eigentlich liegen, denk ich mir sehnsüchtig. Stattdessen sitze ich auf einem schwarzen Plastikstuhl, der dem aus der Trattoria im Hafen zum Verwechseln ähnlich sieht, was nicht verwunderlich wäre, schließlich sind der Trattoriabesitzer und der Zahnarzt Cousins oder Brüder. Ganz klar ist mir das bis jetzt nicht.
„Er ist mein Bruder“, ist schließlich schnell einmal gesagt und kann auch bedeuten, dass man in derselben Fußballmannschaft spielt. Jedenfalls gehört der Arzt zu „La Famiglia“ und wurde mir vom Trattoriabesitzer wärmstens empfohlen, weil er ein guter Arzt wäre und auch wirklich studiert hätte. Ein Zusatz, der wohl dazu gedacht war, zu beruhigen. Eigentlich war es nicht der Trattoriabesitzer, der mir seinen Bruder oder Cousin zuerst empfohlen hat. Vielmehr war es seine Frau, die sich im selben Atemzug sofort wortreich darüber beschwert hat, dass er ihren Kindern trotz Verwandtschaft kaum einen Preisnachlass bei Behandlungen geben würde. Und das, obwohl er während des Studiums immer gratis bei ihnen in der Trattoria gegessen hätte.
In Italien muss man Zahnärzte privat bezahlen. Die Frau des Trattoriabesitzers, die ich zufällig beim Einkaufen getroffen habe, ist keine Anhängerin des italienischen Gesundheitssystems. Es regt sie sogar so auf, dass sie sich während unseres Gesprächs, in das die Supermarktverkäuferin mittlerweile eingestiegen ist, eine Zigarette anzünden muss.
Dabei steht sie mit einem Bein im Supermarkt, um die Schiebetür am Schließen zu hindern, mit dem anderen draußen, wohin sie auch bei jedem Zug kurz ihren Kopf bewegt. Sie versperrt dadurch die Tür, was einen älteren Herrn sehr empört. Der wird sofort von beiden Frauen schroff darauf hingewiesen, dass die Frau des Trattoriabesitzers ja schließlich schlecht im Supermarkt rauchen könne, weil es im ganzen Land keinen Ort mehr gäbe, an dem man in Ruhe rauchen dürfe.
Sogar beim Begräbnis ihres Vaters, erklärt die Supermarktverkäuferin, die sich nun neben die Frau des Trattoriabesitzers stellt und ebenfalls eine Zigarette anzündet, fassungslos, sogar dort hätte man ihr das Rauchen verboten. „Was ist bloß aus diesem Land geworden!“ Ich könnte jetzt auch eine Zigarette gebrauchen, denke ich mir, aber ich rauche ja nicht mehr.
Mein Blick fällt auf Luigi, dessen schmerzverzerrte Miene meiner ähnelt. Luigi hat sich sehr förmlich vorgestellt, als er das Wartezimmer betreten hat. Er trägt eine Malerhose und ein T-Shirt voller weißer Farbspritzer, denn er arbeitet tagsüber auf der Baustelle ums Eck. Abends kellnert er manchmal in der Trattoria im Hafen, seit seine Frau ihren Job verloren hat. „Dieses Land“, seufzt er und schüttelt den Kopf. „Es ist eine Katastrophe.“ Er wirft einen verlorenen Blick aus dem Fenster. „Es müssten viel mehr Touristen kommen in unseren Ort, mehr Leute, die einkaufen und essen. Vielleicht wird es dann besser.“ Er schweigt. Dann stöhnt er, ob vor Schmerzen oder Melancholie ist ungewiss. „Aber“, sagt er resignierend, „davon wird das Meer auch nicht größer.“
Kommentare