Wie man die Sprache der Frühchen zu verstehen versucht

Adam kam bereits in der Schwangerschaftswoche 29 auf die Welt. Auf dem Foto ist er vier Wochen alt.
Mit einem speziellen, individuellen Konzept soll die Entwicklung von Frühgeborenen ganzheitlich gefördert werden.

„Zuerst konnte ich sein Verhalten nicht deuten“, sagt Vian Fathulla, die Mutter von Adam: „Wenn er etwas unrund wird, sein Gesicht verzieht und seine Beinchen hochstemmt: Hat er Hunger, oder will er etwas anderes?“

Adam kam als Frühchen am ersten Tag der Schwangerschaftswoche 29 im St. Josef Krankenhaus in Wien-Hacking auf die Welt. „In der ersten Woche war ich verzweifelt, aber jetzt, nach vier Wochen, fühle ich mich durch die persönliche Betreuung hier sehr sicher.“

Wie man die Sprache der Frühchen zu verstehen versucht

Vian Fathulla mit Adam: "Ich habe dank der Hilfe von Schwestern und Ärzten gelernt, auf seine Signale zu achten." Adam liegt viel Haut an Haut – nur für das Foto wurde eine Ausnahme gemacht.

Die vor einem Jahr neu eröffneten Neonatologie (Frühgeborenenstation) von St. Josef arbeitet mit einem speziellen Pflege- und Betreuungskonzept (Nidcap – Newborn Individualized Developmental Care and Assessment Program) „Es geht zunächst um ein genaues Beobachten des Kindes“, sagt die Neuropsychologin Heidelise Als, Professorin an der Harvard Medical School in Boston. Sie begann Ende der 70-er Jahre in den USA das Konzept zu entwickeln: „Wir müssen die individuelle Sprache der Frühchen lernen und verstehen – und die Pflege darauf abstimmen.“

Wie man die Sprache der Frühchen zu verstehen versucht

Sie beobachten die Zeichen der Kleinsten: Heidelise Als, USA, Teresa Garzuly-Rieser, Salzburg, Nikk Conneman, Rotterdam(v.l.n.r.)

 

Dazu muss man aufmerksam auf jedes Zeichen achten: „Warum führt das Kind ein Händchen näher zum Mund? Möchte es saugen oder möchte es gekuschelt werden? Warum atmet es plötzlich heftiger? Bekommt es genug Sauerstoff? – Wenn es nämlich zu einem Alarm kommt, weil sich etwa die Sauerstoffversorgung verschlechtert, haben wir häufig vorher schon viele dieser Zeichen übersehen“, sagt Als.

„Jeder sieht den Endpunkt, wenn ein Kind schon schwer gestresst ist, Hautfarbe und Atmung stark verändert sind“, sagt auch Prim. Roland Berger, Vorstand der Kinderheilkunde mit Neonatologie im St. Josef Krankenhaus. „Das Schwierige aber ist, frühzeitig zu reagieren.“

Wie man die Sprache der Frühchen zu verstehen versucht

Neonatologe Roland Berger: "Intensive Einbindung der Eltern."

„Im Zentrum steht eine an die Gehirnentwicklung des Kindes angepasste Betreuung, in die Eltern und Familie konsequent einbezogen werden“, betont der Neonatologe Nikk Conneman, der am Kinderspital der Erasmus-Universität in Rotterdam Nidcap seit 20 Jahren praktiziert.

Vorreiter in Österreich ist die Neonatologie des Uniklinikums Salzburg – die Abteilung in St. Josef wurde mit den Salzburger Erfahrungen geplant. Berger: „Bei uns kann alles von außen angeliefert und – etwa der Müll – auch abgeholt werden. Damit reduzieren wir den Lärm auf der Station. Die Mutter- und Eltern-Kind-Zimmer sehen mehr wie ein Hotelzimmer als eine Intensivstation aus.“ Und der Überwachungsmonitor im Zimmer ist – solange er nicht direkt angetippt wird – schwarz: „Die Eltern sollen auf das Kind, nicht auf den Monitor schauen.“

Wie man die Sprache der Frühchen zu verstehen versucht

Berger nennt noch ein Beispiel: „Jahrzehntelang war es üblich, Neugeborene in den ersten Lebensminuten auf den Rücken zu legen, um  leicht kontrollieren zu können, ob sich der Brustkorb gut hebt und die Atmung ausreichend ist. Aber seit wir  das Nidcap-Konzept verstärkt anwenden, legen wir die Kinder auf die Seite. Das entspricht ihrer Haltung in der Gebärmutter und ermöglicht auch die Atemkontrolle. Es bedeutet viel weniger Stress für sie – besonders für ihr Gehirn.“ Untersuchungen wie Ultraschall werden nur dann durchgeführt, „wenn die Kinder dazu bereit und wach sind. Schlafende Kinder wecken wir nicht.“

Gesamtkonzept

Viele dieser Elemente setzen andere Neonatologien auch schon um: „Aber Nidcap ist ein Gesamtkonzept, für das es auch gute Daten gibt.“

Neonatologe Conneman über seine Erfahrungen in Rotterdam: „Die Kinder entwickeln sich besser und können das Spital im Schnitt eine Woche früher verlassen. In den Jahren danach benötigen sie weniger physiotherapeutische Unterstützung.“

Intensivpflegerin Teresa Garzuly-Rieser vom Uniklinikum Salzburg ergänzt: „Wir erhielten eine Dankeskarte einer Mutter mit den Worten: ,Wir kamen als Fremde – und gingen als Familie.‘“

Sieben bis acht Prozent aller Geburten sind Frühgeburten – eine reguläre Schwangerschaft dauert 40 Wochen, von Frühchen spricht man bei unter 37 Wochen. Die unreifsten Frühgeborenen sind jene zwischen Schwangerschaftswoche 23 und 27 und werden nur an Spezialzentren wie unter anderem dem AKH Wien / MedUni Wien behandelt. „Wir versorgen Kinder ab Woche 28“, sagt Neonatologe Prim. Roland Berger von St. Josef anlässlich des Welt-Frühgeborenen-Tages (17.11).

Woche 28 als Meilenstein

„Die Eltern von Kinder z. B. in der Woche 30 sind immer ganz verwundert, wenn ich relativ entspannt bin“, sagt Berger.„Aber für die Neonatologie ist die Woche 28 mit rund 1000 Gramm Geburtsgewicht ein Meilenstein: Da ist davon auszugehen, dass sich die allermeisten Kinder altersgemäß entwickeln. Und auch bei jüngeren und schwächeren Kindern sind die Ergebnisse heute schon sehr gut – allerdings ist der Betreuungsaufwand deutlich höher.“ 50 Prozent der Kinder zwischen 500 und 600 Gramm überleben heute – „vor 30 Jahren waren es 50 Prozent der Kinder mit 1600 Gramm. Und das ist heute ein völlig problemloses Gewicht“.

Enge Zusammenarbeit

Möglich geworden sind diese Erfolge durch die High-Tech-Medizin, die enge Zusammenarbeit von Spezialisten verschiedener Disziplinen (Ärzte, Pflegepersonal, Psychologen) und eine spezielle, die Entwicklung besonders fördernde Pflege: „Und auch ganzheitliche Konzepte wie Nidcap tragen dazu bei. Die intensive Einbindung der Eltern – etwa bei der Fütterung, die auch dank der Eltern-Kind-Zimmer möglich ist – trägt wesentlich zu den positiven Ergebnissen bei – und zu einer besseren Eltern-Kind-Beziehung.“

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