6200 Frühchen jährlich: Wenn das Leben zu früh beginnt

6200 Frühchen jährlich: Wenn das Leben zu früh beginnt
Andreas Karassowitsch wurde drei Monate zu früh geboren. Wie seine Eltern die Zeit erlebten.

„Er war nur so groß wie eine Bierflasche und so schwer wie ein Kilo Brot“, sagt Gerhard Karassowitsch über seinen heute 20-jährigen Sohn und kann selbst kaum glauben, dass aus dem kleinen Bündel im Brutkasten ein stattlicher junger Mann geworden ist. Andreas kam drei Monate zu früh auf die Welt – für seine Eltern ist die turbulente Zeit rund um seine Geburt am 4. Mai 1998 heute noch sehr präsent.

Mutter Alexandra, damals 23, war erst im sechsten Monat schwanger, als sie eine Blutung bemerkte. Die Ärzte verschlossen ihren Gebärmutterhals. Doch nachdem sie ins Wiener AKH verlegt wurde, stellte man eine bakterielle Infektion im Fruchtwasser fest. Diese führte dazu, dass sich der Muttermund zu früh öffnete. Andreas musste in der 27. Schwangerschaftswoche per Kaiserschnitt geholt werden.

„Die Ärzte haben uns gesagt, wir sollen nicht hoffen, dass er schreit. Dann hat er aber geschrien und das war für mich so ein wichtiger Moment“, erzählt Alexandra Karassowitsch. Kindsvater Gerhard, damals 25 Jahre alt, ergänzt: „Er hat sich bewegt, da haben wir gewusst, es passt. Es war unvorstellbar, ich war überglücklich.“

6200 Frühchen jährlich: Wenn das Leben zu früh beginnt

Andreas Karassowitsch (Mitte) mit seinen Eltern Gerhard und Alexandra.

Bei den ersten Besuchen am Brutkasten hatten die Eltern noch Angst, „etwas zu zerstören“. Sie durften Baby Andreas aber von Anfang an herausnehmen, auf ihren Körper legen, ihn wickeln, anziehen oder Fieber messen. „Beim Gang in das Zimmer mit den Brutkästen gab es eine unausgesprochene Regel: nicht nach links und rechts schauen, sondern nur zum eigenen Kind gehen“, sagt Alexandra Karassowitsch. Nicht allen Frühchen ging es so gut wie Andreas, manche waren frisch operiert, andere lagen im Koma.

Ihr Bub entwickelte sich aber prächtig, er atmete rasch selbständig, nahm gut zu und wurde zwei Wochen nach der Geburt ins damalige Preyer’sche Kinderspital, später nach Eisenstadt, verlegt. Eineinhalb Monate blieb Andreas dort, die Eltern kamen täglich aus Rust im Burgenland zu Besuch. „Ich hatte ein gutes Gefühl, weil sich alle sehr lieb gekümmert haben. Er war gut aufgehoben, wir konnten immer anrufen“, erzählt die Mutter. Zu einer Krankenschwester war der Kontakt so eng, dass Andreas ihr sogar seinen zweiten Vornamen Alexander verdankt.

Entlassen wurde Andreas Ende Juni mit 2024 Gramm. „Die Ärzte haben damals gesagt, bis zum sechsten Lebensjahr wird er alles aufholen. Er hat aber nur als Baby Physiotherapie gebraucht, weil er so lange gelegen ist. Sonst gab es keine außergewöhnlichen Probleme“, sagt Vater Gerhard.

Andreas ist heute Maschinenmonteur. Die Geschichte seiner Geburt hat er schon oft gehört. „Ich finde es arg, was die Medizin alles machen kann. Ich denke aber auch daran, wie sich meine Eltern gefühlt haben müssen, wie ich da im Brutkasten gelegen bin.“ Wenn er Freunden erzählt, dass er einmal so groß wie eine Bierflasche war, können sie es kaum glauben – wie er selbst auch.

Angst bei Besuchen

Interview: 6200 Frühgeburten jährlich.

Am 17.11. ist internationaler Welt-Frühchen-Tag. Der KURIER sprach dazu mit Angelika Berger, Leiterin der Neonatologie im AKH Wien/MedUni Wien.

KURIER: Was ist heute die Grenze der Überlebensfähigkeit für Frühgeborene?
Angelika Berger: Als ich vor über 20 Jahren in der Neonatologie begonnen habe, lag die Grenze bei 25 Schwangerschaftswochen. Jedes Kind unter 1000 Gramm war ein Hochrisikokind. Oft kam es bei diesen Kindern zu Hirnblutungen und Organschäden als Folge der Intensivmedizin und der Unreife. Heute können Kinder ab der 23., manche ab der 22. Woche überleben – da wiegen sie 450 bis 600 Gramm. Als kritische Patienten gelten Babys unter 750 Gramm.

Wie viele Kinder kommen in Österreich zu früh auf die Welt?
Pro Jahr werden etwa 6200 Kinder zu früh geboren. Circa 900 davon vor der 32. Woche. Bei uns – darauf sind wir  sehr stolz –  überleben 85 Prozent der extrem unreif geborenen Kinder vor der 28. Woche. Zum Vergleich: Eine normale Schwangerschaft dauert 40 Wochen, alles unter 37 Wochen gilt als Frühgeburt.

Welche Probleme treten durch eine Frühgeburt auf?
Bei der Lunge merkt man nach der Geburt als erstes, ob sie Unterstützung braucht oder nicht. Auch die Allerkleinsten können zwar atmen, aber sie brauchen Atemunterstützung, um die Lungenbläschen offen zu halten. Wir haben bei uns verschiedene Methoden, ihnen dabei zu helfen. Auch das Gehirn ist noch sehr unreif bei extrem früh Geborenen. Die Gehirnentwicklung ist noch nicht abgelaufen, das passiert erst auf der Intensivstation. Sie ist anfällig für Komplikationen. Immer wieder Sorgen macht uns der Darm. Die Kinder werden über längere Zeit künstlich ernährt und nur langsam an Nahrungszufuhr über den Magen-Darm-Trakt gewöhnt.

Was kann eine Frühgeburt auslösen?
Die häufigste Ursache sind Infektionen des Genitaltraktes der Mutter, die sie oft gar nicht bemerkt. Diese können Wehen auslösen. Ein erhöhtes Risiko für eine Frühgeburt gibt es etwa bei Raucherinnen, Mehrlingsgeburten, Adipositas oder sehr jungen und sehr alten Müttern.

Wie häufig sind Beeinträchtigungen bei Frühgeborenen?
Kinder, die vor der 32. Woche auf die Welt kommen, müssen  nachbetreut werden, um zu schauen, ob sie etwa Physio- oder Ergotherapie, Logopädie oder Frühförderung benötigen. Mehr als 70 Prozent dieser Kinder entwickeln sich ganz normal. Schwere Beeinträchtigungen sehen wir erfreulicherweise nur bei einem sehr geringen Prozentsatz.

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