Senta Berger: Das Buch meines Lebens
Das Buch meines Lebens ist sicher mein erstes Buch. Ich habe es von meinem 12 Jahre älteren Cousin geerbt, der mittlerweile bei ganz anderer Lektüre angekommen war, als „Grimms Märchen“. Dieses dicke schon recht zerlesene Buch war mein erstes Leseerlebnis. Ich war Fünf und lernte gerade lesen. Das kam so: Mein einundeinhalb Jahre älterer Freund, der Karli Rauschmeier ging schon in Schule. Jeden Nachmittag saß er kummervoll über seinen Lesekasten. Ich saß daneben und begriff sofort. Der Karli musste mir später mühevoll das Einmaleins beibringen. Aber die Buchstaben wurden sogleich meine Freunde, meine Leiter in eine andere Welt, in das Land meiner Fantasie. Die Märchen waren von Ludwig Richter illustriert. Es waren meine ersten Bilder. Ich wuchs ja in der sogenannten armen Zeit auf. Keine Bilderflut, wie heute. Was Poesie ist, wusste ich damals noch nicht, dass diese Märchenwelt mir Poesie vermittelte, habe ich erst als erwachsene Frau begriffen. Das zarte „Jetzt komme ich nocheinmal und dann nimmermehr“ aus „Brüderchen und Schwesterchen“ lässt mir heute noch die Tränen hochsteigen. Die magische Warnung der Quelle "Wer aus mir trinkt, wird ein Reh ...“ verwandelte jedes Bächlein im Wienerwald in eine mögliche Zauberquelle. Der böse Zwerg, dessen Bart in einem Baumstamm eingeklemmt ist, die Schwestern „Schneeweißchen und Rosenrot“ haben Angst vor ihm und wollen ihn dennoch retten, er saß lange Zeit nachts auf unserem Fensterbrett. Natürlich war es nur das Blumenstöckel meiner Mutter, aber Nacht für Nacht verwandelte es sich in einen langbärtigen Zwerg. Wunderbare, wichtige Erlebnisse.
* Die beliebte Schauspielerin ermittelt wieder als scharfsinnige Kriminalrätin Eva Maria Prohacek in einem Mordfall: "Unter Verdacht: Betongold", ARTE, 5. Februar, 20.15 Uhr
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