Slum-Tour in Mumbai - zwischen Moloch und Märchenwelt
Wer die indische Metropole Mumbai wirklich kennen und verstehen möchte, muss den Slum Dharavi besuchen: ein Viertel, in dem ein Teil des Films „Slumdog Millionaire“ gedreht wurde.
Richi geht voraus. Links, rechts – und wieder rechts. Er hat ein enormes Tempo drauf. „Achtung, aufpassen, Kabel!“, schreit er. Ich tauche noch rechtzeitig ab – und ein in eine Welt, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe.
In den engen Gassen von Dharavi, dem größten SlumMumbais (das frühere Bombay), leben bis zu einer Million Menschen auf einer Fläche von nur zwei Quadratkilometern. Das erzählt mir Richi in einwandfreiem Englisch auf einer Eisenbahnbrücke stehend, von wo man eine gute Sicht auf das darunterliegende Areal hat. „Hier herrscht die höchste Bevölkerungsdichte der Welt. Wie es sich dort lebt, das schauen wir uns nun an“, sagt Richi und geht zielstrebig voraus.
Angeboten wird einem dieser dreistündige Spaziergang abseits herausgeputzter Touristenattraktionen von Reality Tours & Travel um umgerechnet 13 Euro. Solche geführten Slum-Besuche für Touristen sind natürlich nicht unumstritten. Viele bezeichnen sie als „Armutsporno“ und äußern moralische Bedenken.
Gerechtfertigt sind die nicht. Denn die Touren werden von Bewohnern geleitet, auch Richi ist hier aufgewachsen und an eine jener Schulen gegangen, die von den Einnahmen aus den Führungen finanziert werden. 80 Prozent der Einnahmen fließen zurück in die Dharavi-Gemeinschaft – es ist das dringend gebrauchte Geld für Gesundheits- und Bildungsprogramme. Andererseits gibt es klare Regeln, die die Privatsphäre der Einwohner schützen: Es herrscht striktes Fotoverbot.
Business
Wenn man als Europäer an Slums denkt, kommen einem sofort unerträglicher Gestank, endlose Müllberge, Kriminalität, Armut und Elend in den Sinn. Aber Slums sind Wohngegenden für die breite Masse. Knapp 60 Prozent der (geschätzten) 22 Millionen Einwohner Mumbais leben in den meist illegal errichteten Behausungen. Längst sind es nicht mehr nur die Ärmsten der Armen, die sich oft nur wenige Quadratmeter Wohnraum teilen müssen. Wegen der rasant steigenden Immobilienpreise sind auch Menschen aus der Mittelschicht gezwungen, in einen der zirka 2.000 Slums der Stadt zu ziehen. Dharavi ist der größte davon. Anfangs lag das Gebiet am Stadtrand von Mumbai, aufgrund des schnellen Wachstums zählt es mittlerweile zur besten Innenstadtlage und ist dementsprechend heiß begehrt. Bei Investoren, aber auch bei Einwohnern, die sich nicht verdrängen lassen möchten. Denn hier gibt es Schulen und Krankenhäuser, Moscheen, Tempel, Kirchen, Restaurants und Märkte.
Wer hier Chaos, Anarchie und unerträglichen Gestank vermutet, wird eines Besseren belehrt. Jährlich werden hier umgerechnet 700 Millionen Euro umgesetzt. Manche Arbeiter verdienen 70 bis 100 Euro im Monat und liegen damit knapp über dem indischen Durchschnittseinkommen. Es gibt mehr als 15.000 Kleinbetriebe und Werkstätten: Töpfereien, Lederverarbeitung und Schneidereien. Jedes Jahr werden Tonnen von Keksen gebacken, es wird gekocht und genäht. „Das hier ist eine Textilfabrik“, sagt Richi und zieht einen Vorhang zur Seite. Zum Vorschein kommen Maschinen, die gerade Stoffe in leuchtende Farben tauchen. Es ist ein ganzer Industriezweig, den man hier beobachten kann – vom Färben, Bedrucken bis hin zum Feinschliff an der Nähmaschine. Es entstehen Levis-Jeans, Puma-T-Shirts und Adidas-Pullover. Alles Fake, versteht sich. Verkauft wird die Ware auf den zahlreichen Märkten Mumbais.
Ein paar Baracken weiter werden Regenmäntel und Regenjacken angefertigt. Das Plastikgeschäft zählt zum größten Business im Slum. Fast der gesamte Mumbaier Plastikmüll wird in Dharavi von Hand getrennt, auf den Wellblechdächern getrocknet und danach geschreddert – mit Maschinen, die ebenfalls hier gebaut werden.
Harte Kontraste
Obwohl die Mittagssonne die Novemberluft auf rund 32 Grad erwärmt, ist es in den oft nur schulterbreiten Gassen angenehm kühl. Der Boden ist uneben und klitschig vom Abwasser, das hier direkt eingeleitet wird. Kanalisation, wie man sie hierzulande kennt, gibt es keine. Dafür ist es trotzdem recht sauber. Es ist auch erstaunlich still, Autos finden keinen Platz. Der Slum ist eine der wenigen autofreien Zonen der Stadt, die einer Bestie gleichen – es dampft, duftet mal nach exotischen Pflanzen und Gewürzen, stinkt mal erbärmlich nach Müll und Dreck: Greta Thunberg und CO2-Bilanzen spielen hier (noch) keine Rolle.
Die Stadt am Arabischen Meer ist ein guter Einstieg für Indien-Reisende. Hier lässt sich Bekanntes finden und Neues entdecken. In den Straßen begegnen einem harte Kontraste: Luxus und Armut, Erleben und Überleben, Moloch und Märchenwelt. Vom Minarett ruft der Muezzin, vor einem Hindutempel glimmen Räucherstäbchen.
Alles fließt ineinander, alles passiert zeitgleich: Während in einem herrschaftlichen Gebäude, einem Relikt der britischen Kolonialherrschaft im Geschäftsviertel Fort, ein Bollywood-Film gedreht wird, hockt am Gehsteig davor eine vierköpfige Familie unter einer Plastikplane. Es ist ihr Zuhause. Mumbai ist oft wie das Leben selbst: Manchmal bringt es einen zum Lachen, manchmal zum Weinen.
Info
Anreise: Zum Beispiel von Wien mit Turkish Airlines über Istanbul nach Mumbai. Flugzeit zirka 11 Stunden. Die Kosten der Kompensation betragen via climateaustria.at 32,33 €. Es herrscht Visumpflicht (Kosten: zirka 23 Euro für einen Monat)
Impfungen: Neben Standards wie Tetanus und Diphtherie wird ein Schutz gegen Hepatitis A, B, Tollwut sowie Cholera empfohlen. An Insektenschutz gegen Malaria und Denguefieber denken.
Sehenswürdigkeiten: Der Triumphbogen Gateway of India ist das berühmteste Wahrzeichen. Das Taj Mahal Palace ist ein luxuriöser Hotelpalast mit dem Charme vergangener Zeiten. Der Chhatrapati Shivaji Terminus ist ein prunkvoller Bahnhof und UNESCO-Weltkulturerbe.
Verkehr: Wer sich kein Auto leisten kann oder nicht stundenlang im Stau stehen möchte, nimmt in Mumbai den Zug. Mit diesem öffentlichen Verkehrsmittel gelangt man günstig und schnell von Nord nach Süd – und u. a. zum Chhatrapati Shivaji Maharaj Terminus. Das ist einer der prächtigsten Bahnhöfe der Welt.
Lifestyle: Neben den heiligen Kühen begegnen einem in den Straßen Mumbais häufig auch Ziegen. Sie bewegen sich relativ frei durch die Stadt, fressen Abfälle und liefern jene Milch, die die Inder gerne in ihren Tee leeren: Der Chai wird mit Kardamom, Zimt, Ingwer, Nelken, Muskat und unfassbar viel Zucker aufgebrüht.
Essen: Wenn Fleisch auf den Teller kommt, dann am ehesten Huhn. Bevorzugt isst man aber vegetarisch. Am besten in Form von Thalis, die meistens aus Gemüsecurrys, Reis, Naan Brot und/oder Bhatura (frittiertes Fladenbrot) bestehen. Das Essen auf dem Bild (unten) hat 120 Indische Rupien (1,50 Euro) gekostet und schmeckte sehr gut.
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