Luchsuriöser Ausflug auf den Spuren der Raubkatzen
Christian Fuxjäger zeigt auf einen großen Stein, der am Wegesrand im Wald liegt. „Wenn hier der Luchs gegangen ist, lässt er den Felsen nicht links liegen. Da markiert er hin.“ Um zu prüfen, ob die Katze hier war, kniet er sich hin und riecht. „In letzter Zeit nicht.“ Das hätte er bemerkt. „Luchse riechen wie Katzen, nur viel stärker.“
Fuxjäger – ein großer, bedächtiger Mann – ist Luchsbeauftragter im Nationalpark Kalkalpen und ist regelmäßig draußen im Wald, um seine Schützlinge aufzuspüren. Das macht er etwa, indem er nach Hinterlassenschaften der Raubkatzen mit den markanten Pinselohren wie Haare oder Losungen sucht. Immer wieder nimmt er einen Zweig in die Hand und führt ihn zur Nase. Auch die Ecke einer verlassenen Hütte inspiziert er auf olfaktorische Auffälligkeiten.
Schlau wie ein Fuchs
Oder der Ranger hängt Fotofallen auf. Immer in der Nähe von Waldwegen. „So ein Manderl hat ein riesiges Revier. Es erstreckt sich von Ost bis West auf 25 Kilometer. Und es muss Meter machen. Das geht am besten auf Forststraßen. Es hat keine Kraft zu verschenken.“ Schon ein Fuchs, so ein Luchs.
Derzeit streifen drei Kuder, wie man in der Jägersprache das männliche Tier beim Eurasischen Luchs nennt, und drei Weibchen durch die Region. „Sie sind soziale Einzelgänger. Aber sie wollen Kontakte. An ihren Reviergrenzen haben sie Markierstellen, wo sie einander riechen können.“ Menschen gehen sie üblicherweise aus dem Weg. Fürs Abklappern der Fotofallen fährt Fuxjäger mit dem Geländewagen einen ganzen Tag durch die Botanik. Weite Wälder, steile Wege, wild-schöne Schluchten und rauschendes Wasser des Ramingbaches. Es gibt hässlichere Arbeitsplätze. Vor allem, wenn die Sonne scheint.
Los geht die Tour in Reichraming. Das Dorf südlich von Steyr liegt in der Eisenwurzen, von dort wurden früher Harnische und Messer nach Europa exportiert. Das Holz fürs Schmieden kam aus den umliegenden Wäldern, in denen sich heute der Luchs tummelt. Früher wurden die Baumstämme über Klausen und Schleusen flussabwärts bugsiert.
Am Mahnmal vorbei
Später holte die Eisenbahn den Brennstoff auf einer vierzig Kilometer langen Strecke mit Tunneln und Brücken. In den 1970ern wurde sie eingestellt, die Schienen wurden abgetragen. Heute fahren auf der Trasse Ausflügler mit dem Rad (meist mit elektrischem Antrieb). Sie radeln dabei auch an einer bronzenen Luchs-Skulptur vorbei. „Da hat einmal wer davor ein aufgebrochenes Reh hingelegt.“ Ob aus Spaß oder Protest gegen das Luchs-Projekt – so genau weiß man das nicht.
Die Statue, die in ihren Proportionen einem echten Tier ähnelt – es ist eigentlich gar nicht so groß –, hat einen ernsten Hintergrund. Sie ist ein Mahnmal. Sie steht an jenem Ort, an dem 2011 das Schweizer Luchsmännchen Juro, das für Nachwuchs sorgen sollte, ausgewildert worden ist. Aber das Tier wurde getötet. Seit dem Wiederauftauchen des Luchses gibt es auch jene, die ihn nicht geschützt haben wollen. Etwa, weil er das Rotwild stören könnte. „Mir hat einmal ein Jäger gesagt, wenn der zu mir ins Revier kommt, schwimmt er am nächsten Tag in der Enns“, sagt Fuxjäger.
Mehr als hundert Jahre war das Tier in der Region verschwunden, bis 1998 ein Kuder auftauchte. Womöglich war er über Slowenien gekommen. „Ich hab ihn 2000 zum ersten Mal fotografiert.“ Man taufte ihn Klaus und ließ in der Schweiz noch zwei Katzen und einen Kuder fangen. Das Programm war erfolgreich, es gab Nachwuchs. Und plötzlich verschwanden Tiere. Den Verantwortlichen des Nationalparks schwante Übles. Und tatsächlich: Die Polizei fand einen Luchs 2015 in der Gefriertruhe eines Präparators. Der Hinweis kam von der Ex-Geliebten eines Jägers.
Jäger hat sich geoutet
Aber es gab wieder neue Anläufe, die Population zu retten. Aus der Schweiz kamen neue Tiere. Mittlerweile habe sich die Stimmung geändert, meint Fuxjäger. Einmal habe ihn ein Weidmann angerufen und gesagt: „Jetzt ist es passiert. Gestern habe ich mich im Wirtshaus als Luchs-Fan geoutet.“
Aber ab und zu höre er immer noch kritische Stimmen. Er seufzt. Und der sonst so sanfte, ruhige Mann hat plötzlich eine Wut in der Stimme. „So viel Aufregung wegen eines kleinen Tiers!“ Dabei erlege der Beutegreifer 0,6 Tiere pro Hektar und Jahr. Jäger würden wesentlich mehr herausschießen. „In 20 Jahren Luchs im Nationalpark gab es gerade einmal drei Schadensfälle mit Nutztieren.“ Einmal riss er ein Schaf, zwei Mal ein Damwild im Gehege. „Damit kann er bis zu drei Wochen auskommen.“
Wenn der Luchs eine Beute erlegt hat, führt sein Weg regelmäßig zum Kadaver. Und das sieht Fuxjäger auch. Er kramt sein Handy hervor und loggt sich in eine Maske ein und zeigt eine Route auf der Karte, die am Bildschirm aufleuchtet. Die Luchse sind mit einem Halsbandsender ausgestattet und der studierte Forstwirtschaftler kann so ihre Aufenthaltsorte sehen. Und wer die Wege der Tiere kennt, kann sie auch aus der Distanz beobachten. „Hast du schon einmal einer Hauskatze beim Fressen zugeschaut? Die schüttelt danach immer ihre Pfoten. Der Luchs macht das genauso“, erzählt er. Und man merkt an seiner freudigen Stimme: Hier spricht ein Katzenfreund.
Fuxjäger lenkt das Auto weg vom Weg, hinein in den Nationalpark. Er fährt über eine Brücke. „Hier geht er oft drüber.“ Er fährt kurvige Straßen bergauf. Als er aussteigt, um nach Spuren Ausschau zu halten, berichtet er von Luchsen, die nicht aus der Schweiz gekommen sind. „Im Jahr 2009 hatten wir einen Gehegeflüchtling aus einem Tierpark. Der brachte einen ganz schönen Wirbel rein.“ Das entlaufene Zoo-Tier war Menschen gewohnt. „Er floh erst bei einer Distanz von fünf Metern. Das hat die Menschen überfordert. Er hat sich einfach so hingelegt.“ Das Tier wurde eingefangen und zurückgebracht. Doch es büxte wieder aus. „Ein paar Mal hat man ihn noch gesehen. Aber es ist offenbar ein offenes Geheimnis, wer den erschossen hat.“
Verhängnisvolle Neugier
Gefahr für Menschen gehe von Luchsen nicht aus. „Sie verteidigen nicht einmal ihren Nachwuchs.“ Wenn im Nationalpark eine Höhle gefunden wird, werden die Tiere untersucht. Und dafür muss man sie in die Hand nehmen. „Das war mein Highlight. So kleine Katzerln, das war schon lässig.“ Das skeptische Elterntier betrachte das Geschehen von sicherer Entfernung aus. Neugierig sind sie. „Das macht sie auch anfällig für Abschüsse. Es kann schon sein, dass ein Luchs in 100 Metern Entfernung auf dem Baum sitzt und nur schaut.“
Fuxjäger kommt zu einer Fotofalle, die an einem Baum am Wegesrand montiert ist. „Mir kommen immer wieder welche abhanden.“ Er vermutet, dass Mountainbiker, die verbotenerweise im Nationalpark-Gebiet radeln, so Beweise verschwinden lassen wollen. Es raschelt. Gar ein Luchs? Nein, eine Gämse, die sich den Weg hügelabwärts bahnt. Der Ranger schraubt an Baum und Gerät herum, holt eine Speicherkarte hervor und schiebt diese in sein Tablet. Mehrere Monate war er nicht hier. Jetzt wird es spannend. Unzählige Fotos rattern ins System. Er scrollt sich schnell durch. „Auf den ersten Blick ist da keiner vorbeigegangen.“ Aber das bedarf noch eines zweiten Blicks.
Fuxjäger zeigt frühere Aufnahmen. Ein Luchs in der Dämmerung spaziert an der Linse vorbei. Er hat ein schönes Muster. „Ich erkenne jeden unserer sechs Luchse an seinen Fellflecken.“
Nach mehr Tieren sieht es derzeit nicht aus. Neuer Nachwuchs hat sich seit Jahren nicht eingestellt. „Laborbefunde haben ergeben, dass das Männchen Lakota unter niedrigen Testosteronwerten leidet.“ Das hat den oberösterreichischen Naturschutzlandesrat Manfred Haimbuchner (FPÖ) auf den Plan gerufen. Er will Lakota durch ein jüngeres Exemplar austauschen lassen, das den mittlerweile alten Damen ab und zu Gesellschaft leisten soll.
Platz für mehr Luchse
Bis ein neues Exemplar kommt, wird noch einiges Wasser den Ramingbach hinabfließen. Fuxjäger sähe – zumindest auf den Fotofallen – aber gerne mehr dieser Beutegreifer herumstreifen: „Hier in der weitläufigen Region wäre Platz für zehn Luchse.“
Infos: Ranger des Nationalparks Kalkalpen führen regelmäßig ins „Reich des Luchses“. Fixtermine auf der Homepage kalkalpen.at. Gruppen ab 10 Personen sollen sich mit den Besucherzentren in Verbindung setzen. Tel.: 07584/3951. Ein Weitwanderweg führt in elf Etappen vom Nationalpark Kalkalpen, über den Nationalpark Gesäuse bis ins Wildnisgebiet Dürrenstein. luchstrail.at
Die Region um den Nationalpark Kalkalpen ist nicht das einzige Gebiet, wo der bedrohte Luchs in den vergangenen Jahren gesichtet wurde.
Im Jahr 2015 fand ein im Nationalpark Kalkalpen geborener Jungluchs den Weg ins nicht weit entfernte niederösterreichische Wildnisgebiet Dürrenstein. Rund um den Jahreswechsel 2020/2021 dann die Sensation. Nach 100 Jahren sind zwei Tiere in den Quellenschutzwäldern der Stadt Wien im Gebiet um Hochschwab, Rax und Schneeberg einer Fotofalle vor die Linse gelaufen. Woher die Luchse stammen, ist noch nicht klar.
Das Mühl- und Waldviertel bekommen wegen der Nähe zum Bayerischen Wald und zum Böhmerwald immer wieder Besuch von der Katze. Rund 120 Tiere sollen in diesem großen Schutzgebiet leben.
Vor der Wiederansiedlung im Europa der 1970er und -80er wurde in Österreich 1918 der letzte heimische Luchs im Bregenzerwald erlegt.
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