Er brauche Zeit, sehr viel Zeit, erzählt ein Freund – „im Vertrauen“ versteht sich. Mehr Zeit als manch anderer, vermutet er und wirkt dabei irritiert. „Dabei heißt es doch oft, Männer sind zu hastig beim Sex. Ich fürchte, ich bin zu langsam.“ P scheint verunsichert, die Frau, mit der er sich zuletzt vergnügt hatte, sagte zuletzt häufig „Mach schon!“ Eines Tages war sie weg, P vermutet, es könnte daran gelegen sein. Er würde gerne kommen, sehen, siegen – und zwar pronto. Doch er sieht und kommt behutsam – zunächst in die Gänge, dann zum Orgasmus. „Ich spüre, wie ich manche Frauen damit überstrapaziere, vielleicht sogar langweile“, sagt er ebenso und: „Ich würde gerne normal sein.“
Aber was ist das, dieses „normal“? Gerne werden wir diesbezüglich mit Zahlen konfrontiert, zur „optimalen Länge des Vorspiels“, zur „Idealdauer eines Akts“ oder zum Beispiel, wie oft verheiratete Paare Sex haben sollten. Da heißt’s etwa, vier Mal sei adäquat. Im Monat. Ist es beunruhigend abnormal, wenn es nur drei Mal sind oder – anderes Ende der Fahnenstange – 15 Mal? Und wie dramatisch ist es, wenn ein Paar nur 2,7 unterschiedliche Stellungen bevorzugt, statt der postulierten 4,8? Ist man dann fad oder wie gesagt: jenseits der Norm? Das ginge, ein wenig überzeichnet, womöglich so weit, dass man sich angesichts der Menge seines Ejakulats schreckt. Ein Teelöffel voll sei das, „normalerweise“, im Rahmen eines herkömmlichen Geschlechtsverkehrs (was natürlich schwierig festzustellen wäre). Allein der Gedanke, es könne allenfalls nur eine halbe Portion sein – puh, Stress. Im Ernst: Die meisten Menschen lieben und liebäugeln mit Zahlen, Statistiken, Normen. Sie finden es reizvoll, sich darin wiederzufinden. Man „misst“ sich an dem, was angeblich „Durchschnitt“ ist – und zieht Vergleiche.
Und wie dramatisch ist es, wenn ein Paar nur 2,7 unterschiedliche Stellungen bevorzugt, statt der postulierten 4,8? Ist man dann fad oder wie gesagt: jenseits der Norm?
Unter Druck gesetzt
Blöd wird’s allerdings, wenn sich jemand dadurch verunsichern und unter Druck setzen lässt – etwa, weil er fünfeinhalb Minuten länger oder kürzer für irgendwas braucht. Zurück zum oben erwähnten Herrn mit seinem, wie er glaubt, missglückten Timing: Richtig, es gibt tatsächlich Männer, die an verzögertem Samenerguss leiden, aber das Phänomen der „Ejaculatio Retarda“ ist recht selten, nur ein bis vier Prozent leiden daran. Bei Nachfrage hat sich dann auch gezeigt, dass der gute Mann vieles im Leben langsamer angeht – das Essen, Spaziergänge, den Alltag an sich. Er spricht auch so – wählt Worte, wartet und wägt ab, hält inne, sucht nach dem richtigen und passenden Gedanken. Offenbar ist er ein Genießer – oder schlicht jemand, der nicht dem aktuellen „Alles-jetzt-sofort-Mantra“ folgt. Ein Mensch, der innehält, bevor er handelt und tut – was mehr denn je wertvoll scheint.
Zeit, ihn zu beruhigen, zumal es zum Thema inter-essante Fakten gibt. Tatsächlich existieren große Unterschiede bei der Frage, was „zu lang“ beim Sex bedeutet. Manche Experten finden, dass vier Minuten Geschlechtsverkehr zu viel des Guten wären (hä?), andere sind überzeugt, dass erst bei 45 Minuten die Grenze erreicht wäre. Wie auch immer, das Wichtigste ist doch wohl, was in diesem Zeitraum geschieht. Sich eine Dreiviertelstunde lang stupid durchzuhecheln, ja, das kann mühsam werden. Aber 45 herrliche Minuten lang zu spielen, zu fühlen, zu atmen und zu lachen, kann wunderschön sein – wenn es gerade passt und zwei Menschen das mögen. Sich der Hast entziehen, sich dem „Fest der Liebe“ widmen, endlich nicht auf die Uhr schauen müssen, sich treiben lassen, es treiben, im Moment bleiben: so gut, frei nach Einstein: „Zeit ist das, was man an der Uhr abliest.“
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