Der Wortlaut überrascht. Prägten doch etwa auf Instagram lange Zeit unrealistische Lebensstile, Ästhetik ohne Tiefgang und eine redundante Werbeflut das virtuelle Geschehen. 2015 zählte jeder elfte Deutsche zur Gruppe der Influencer; die Inhalte wurden zusehends homogener, die Akteure abgehobener. Die substanzlosen Auftritte mancher reichweitenstarker Instagrammer treffen immer weniger den Zeitgeist und die Werte der jungen Generation. Werbegeld-generierenden Influencern treten glaubwürdigere "Sinnfluencer", oft mit überschaubarer Followerschaft, entgegen. Ein Trend, der im Phänomen der Genuinfluencer zu gipfeln scheint.
Wissen und Information gewinnen auf klassischen Influencer-Plattformen an Relevanz, bestätigt Social-Media-Expertin Birgit Hajek: "Was früher ansprechende Fotos waren, sind heute aufwendige Videos oder gut recherchierte Geschichten." Hajek sieht darin nicht unbedingt eine Weiterentwicklung, "sondern eine andere Content-Art, die künftig neben Oberflächlicherem Platz haben wird".
Bewegung in der Branche beobachtet auch Digitalexpertin Antonia Wille: "Der Wunsch nach Authentizität und Nahbarkeit wächst. Man will nicht mehr nur durch glatte Hochglanzleben scrollen und Werbehülsen liken, sondern Menschen mit Haltung folgen, die Gesellschaftspolitisches ansprechen."
Feminismus, Umweltschutz, soziale Ungleichheiten, psychische Gesundheit: Genuinfluencer betreiben in diesen Bereichen Bildungsarbeit. Unter dem Kanalnamen "Erklaerungsnot" gibt Dinah Berger psychisch Erkrankten eine Stimme: "Ich zeige mit verschiedenen Formaten, wie sich seelisches Leid anfühlt und wie Angehörige mit Betroffenen umgehen können", schildert die Psychologiestudentin.
Sie möchte "gegen Stigmata und für mehr Akzeptanz von psychischen Erkrankungen kämpfen und Berührungsängste abbauen". Den Wunsch der Community nach Informations- und Inspirationsquellen erklärt sich die Deutsche so: "Wir verbringen immer mehr Zeit in sozialen Medien und haben immer größeren Anspruch an sie. Es reicht nicht mehr, nur Werbung oder schöne Bilder zu sehen. Wir wollen am Weltgeschehen teilnehmen, Meinungen bilden, Neues lernen."
Ninia LaGrande macht sich auf Instagram für Inklusion stark. Die kleinwüchsige Schriftstellerin spricht und schreibt im Netz über Erlebnisse aus dem Alltag mit Behinderung: "Ich verfolge mit meinem Account das Ziel, Sichtbarkeit zu schaffen. Mir haben Vorbilder in meiner Jugend gefehlt."
Genuinfluencer, die zahlende Kooperationspartner mit Sorgfalt wählen, sind auch für Werbetreibende interessant. Wille: "Viele Unternehmen wollen sich heute gesellschaftspolitisch positionieren und Zielgruppen ansprechen, die sich für bestimmte Themen begeistern. Über authentische Nischen-Influencer erreicht man solche Zielgruppen sehr gut."
Soziale Verantwortung
Das Bewusstsein dafür, dass man als Influencerin mit Reichweite auch Verantwortung trägt, wächst. "Mit der Zahl der Follower steigt auch der Druck", weiß Hajek. LaGrande sieht die Sache differenziert: "Influencer mit hoher Followerzahl haben eine gesellschaftliche und soziale Verantwortung. Das bedeutet aber nicht, dass sie jeden politischen Diskurs auf ihrem Account durchkauen müssen. Vor allem, wenn sie selbst nicht genug Ahnung vom Thema haben. Nichtsdestotrotz sollten sie sich überlegen, wem sie auf ihren Accounts Sichtbarkeit geben und wem nicht."
Mit dem Label "Genuinfluencer" kann sich LaGrande ebenso anfreunden wie Berger und Aschenbrenner. "Geht es nur darum, Bekanntheit zu generieren, sind Inhalte oft zweitrangig. Es geht darum, ein breites Publikum und so viele Kunden wie möglich zu bedienen", weiß Aschenbrenner. "Dass man sich so sehr austauschbar macht, scheint vielen nicht bewusst zu sein."
Im vergangenen Jahr war Orientierung aufgrund der Pandemie-bedingt konfusen Lebenssituation enorm wichtig. Das hat dem Genuinfluencer-Trend einen Schub verpasst, sind sich die Digitalexpertinnen einig. Hajek: "In einer Zeit, in der viele kaum ihre eigenen vier Wände verlassen konnten, war es auch für Influencer schwierig, leichten Content aus dem Restaurant nebenan zu produzieren. Somit waren die Pandemie und ihre Auswirkungen, aber eben auch aufwendiger informativer Content der zu Hause produziert werden konnte, klare inhaltliche Schwerpunkte."
Die Pandemie habe außerdem "Denkprozesse in Gang gesetzt, die sich darauf auswirken, was sie im Netz konsumieren und welche Werte die Menschen vertreten, denen sie auf Social Media folgen – und ob diese Werte noch zu ihnen passen", sagt Wille.
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