Was Prinz Harry half, sein Trauma zu überwinden
In ihrem Beruf als Feinmechanikerin ist sie erfolgreich, sozial führt sie ein erfülltes Leben. Doch wie aus dem Nichts überwältigen Panikattacken die 23-Jährige: Wenn ihr neuer Chef auftritt – oft laut schimpfend und cholerisch –, fühlt sie sich „wie ein anderer Mensch. Von einem Moment zum anderen fassungslos, ohne Worte und ohne Denkfähigkeit“.
Wenn sich eine gestandene erwachsene Frau als sprachlose Achtjährige fühlt, denkt man nicht an belastende Erlebnisse, die dahinter stehen könnten. Eva Münker-Kramer, Vorsitzende der EMDR-Austria-Fachgesellschaft, schon. Ereignisse, die für andere harmlos wirken, können für die Betroffenen dramatisch sein. Da reicht nur ein kleiner Auslöser (engl. Trigger), um eine frühere Erfahrung wieder hervorzuholen.
Gewalttätiger Vater
So auch bei der jungen Frau. Ihre Kindheit war geprägt vom alkoholkranken, gewalttätigen Vater. „Sie fühlte sich diesen Erfahrungen aber seit Jahren ‚entwachsen‘“, berichtet die Psychologin und Psychotherapeutin Münker-Kramer über ihre einstige Klientin.
Gehirnhälften stimulieren
Sie setzte zur Therapie EMDR ein. Das steht für „Eye Movement Desensitization and Reprocessing“. Der Fachbegriff meint damit die Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegung, die abwechselnd die rechte und linke Gehirnhälfte stimulieren sollen: Der Therapeut bewegt einen Finger von links nach rechts, der Klient folgt mit den Augen. Auch leichte Berührungen („Tapping“) oder vibrierende Pads (in den Händen gehalten) werden eingesetzt.
Zuvor erarbeitet man individuelle Schlüsselerlebnisse der früheren Erfahrungen, damit diese aktiviert und aus der jetzigen Perspektive neu verarbeitet werden können. Münker-Kramer: „Dem Gehirn wird nachhaltig klargemacht, dass die Erwachsene im Hier und Jetzt – im Gegensatz zum damaligen Kind – Handlungsfähigkeit besitzt.“
Verarbeiten
Die Arbeit über die Augenbewegungen helfe dem Gehirn oft besser und schneller, die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Vor allem dann, wenn das Erleben und Verhalten nicht zu den aktuellen Ereignissen oder Auslösern passt. Münker-Kramer erklärt, was da passiert: „Normalerweise verfügt das Gehirn über einen inneren Mechanismus des Verdauens von emotional-mental-physiologischen Belastungen“, der in den REM-Schlafphasen im Traumschlaf stattfindet.
„Wenn zu große, zu schreckliche, mit diesem Mechanismus nicht einzuordnende Erlebnisse vorkommen, schafft das Gehirn das alleine nicht.“ Die Folge: Die natürliche Verarbeitung und Speicherung ist blockiert. Mit EMDR soll dies aufgelöst und in die persönliche Erfahrungswelt integriert werden. „Das Gehirn weiß, was es tut. Mein Job als Therapeutin ist, dem inneren System zu vermitteln: Es ist vorbei. Du bist nicht mehr in der belastenden Situation.“
Traumatherapie
Entwickelt wurde EMDR in den 1980er-Jahren von der US-Therapeutin Francine Shapiro. Die Methode gilt heute als anerkannte Technik innerhalb der Traumatherapie. Auch Studien belegten die Wirkung. Münker-Kramer und ihre Kollegin, die Psychiaterin Sylvia Wintersperger, gründeten die österreichische Fachgesellschaft 2004. „Man kann EMDR überall dort einsetzen, wo es noch Reste unverarbeiteter, stecken gebliebener Hochstresserfahrungen gibt, welche über die Jahre auch zu negativen Selbstüberzeugungen in Bezug auf die Erlebnisse geführt haben“, betont Wintersperger. Es dreht sich also im Kern um Traumatisierungserfahrungen, die wir zur Nachverarbeitung bringen wollen. Sie beschreibt EMDR als „eine strukturierte Technik, die als hochwirksames Instrument in verschiedene Therapiekonzepte integriert in der Traumatherapie eingesetzt werden kann“.
Allerdings brauche es eine genaue Vorarbeit. Die Person muss ausreichend seelisch stabil sein, um der belastenden Erinnerung zu begegnen. „Konkret geht man von dem aus, was der Patient im Hier und Jetzt empfindet, wenn er an die belastende Erinnerung denkt ((Man sucht den „Moment der am stärksten spürbaren Belastung, emotional und körperlich, auf“)).
In der Therapie wird dann mit den aktuell gespürten negativen Sätzen über sich selbst und den für die Zukunft gewünschten positiven Sätzen gearbeitet; mithilfe bilateraler Stimulation (durch Augenbewegungen oder Tapping) wird ein lösungsorientierter Assoziationsprozeß beim Patienten in Gang gesetzt. (AIP: adaptive information processing /Shapiro). „EMDR bietet so einen strukturierten Rahmen, die traumatisierenden Erfahrungen durchzuarbeiten.“ Deren Integration und Auflösung passiere dadurch, dass das in der Vorbereitung ausreichend gestärkte Ich der Gegenwart der Schreckenserfahrung aus der Erinnerung Stand hält.“
Grenzen
Die traumatischen Erlebnisse können in verschiedenen Formen auftreten. Wie bei unserer Feinmechanikerin als sogenannte sequenzielle, triggerbare Traumatisierung im Hintergrund. Bei ihr werden längst verarbeitet geglaubte Bindungserfahrungen aus der Kindheit durch einen Auslöser getriggert. Traumata können aber auch durch Einzelereignisse, etwa durch einen Autounfall, ausgelöst werden. Wintersperger berichtet etwa von jahrelangen Albträumen, die immer wieder denselben erlebten Ablauf abbilden (Intrusive Träume im Fachbegriff).
Nicht so einfach
Wie alle Methoden hat auch EMDR seine Grenzen. „Nicht alles, was schlimm war, kann mit EMDR bearbeitet werden“, warnt Wintersperger. Je nach Patient und Stabilität seien andere Trauma-therapeutische Verfahren möglicherweise erfolgreicher. Nur „ein bisschen mit den Händen hin- und herwischen und dann ist das Trauma weg – so einfach ist es nicht.“
Sie und auch Münkner-Kramer vergleichen den Therapie-Prozess mit einer präzisen Operation nach entsprechender Vorbereitung. „EMDR ist ein eng umgrenztes, sehr scharfes Instrument, das in die Hände von gut und in anerkannten Instituten Ausgebildeten gehört. Man würde sich ja auch nicht von einem Laien operieren lassen.“
Bekannte Klienten
Prinz Harry machte öffentlich, seine psychischen Probleme als Elfjähriger nach dem Tod seiner Mutter mittels EMDR zu verarbeiten. Auch Paris Jackson, Tochter von Superstar Michael Jackson, sagte in einem Interview, ihre posttraumatische Belastungsstörung durch Paparazzi-Verfolgung seit frühester Kindheit mit EMDR bewältigt zu haben. MacKenzie Phillips (Tochter von J. Philipps, Leadsänger bei „The Mamas and The Papas) bearbeitete sexuellen Missbrauch mit EMDR.
Serien
EMDR kam in „Grey’s Anatomy“ (Staffel 16, Folge 5) und „The Affair“ vor.
Therapeutensuche
Das EMDR Institut Austria ist das einzige autorisierte österreichische Partnerinstitut des EMDR-Institute von Francine Shapiro, USA. Eine Liste zertifizierter Therapeuten gibt es unter emdr-fachgesellschaft.at
Infos findet man auch beim Netzwerk Traumatherapie und beim Zentrum für angewandte Psycho-Traumatologie
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