Enthüllte Lüste
Wer jetzt an nackte Haut, hautenge Lederkluften, Nähe im Rausch, Ekstase und ohrenbetäubende Technobeats denkt, irrt nicht. Doch Sexpositivität meint mehr als sexuelle Maßlosigkeit. "Es geht um einen bejahenden, toleranten Umgang mit Sexualität in all ihren Formen", sagt Beatrix Roidinger, klinische Sexologin. Sie ist Mitorganisatorin der "Sexolution"-Konferenz zu Sexpositivität, die dieses Wochenende – Corona-bedingt virtuell – stattfindet (siehe Infobox unten). "Sexpositiv sein bedeutet, diversen Geschlechteridentitäten, Körpern und sinnlichen Begehrlichkeiten gegenüber offen und neugierig zu sein. Es bedeutet, Lust in ihrer ganzen Fülle zu achten, auch jene Spielarten, die ich selbst nicht leben möchte."
Das bedeute nicht zwingend, viele wechselnde Sexualpartner zu haben. Sexpositivität schließt alle mit ein: hetero- und homosexuelle Liebe, polygame Beziehungskonzepte ebenso wie monogame Partnerschaften, BDSM, Fetisch und Tantra, aber auch der oft zitierte Blümchensex. "Sexpositivität ist nicht bloß kein weiterer Mosaikstein der modernen Spaßkultur. Es geht darum, bewusst und ohne Scham die Auseinandersetzung mit eigenen sexuellen Perspektiven zu suchen, um daran zu wachsen", sagt Roidinger.
Sexpositive Partys sind eine Facette dieser Bewegung, die einen freieren Umgang mit Begehren propagiert. Im Unterschied zu Swinger-Partys, "wo das Setting bestimmt, dass der Sex im Vordergrund steht", erklärt Zack, der auch Gründer des sexpositiven Vereins S.O.U.L. ist: "Alles kann, nichts muss – darin liegt die Schönheit unserer Feiern", beschreibt er. Bei seinen Partys gehe es zwar auch um Sex – allerdings immer unter der Voraussetzung, dass alle Beteiligten das auch wollen. "Die eigene Freiheit endet da, wo sie die Grenzen eines anderen überschreitet."
Strenge Tür, lockeres Flair
Der Kreis der Gäste ist elitär, Vorurteile oder Verklemmtheit müssen draußen bleiben. "Es gibt keine Abendkasse, ohne Voranmeldung kommt man nicht hinein. Im Vorfeld informieren wir unsere Gäste intensiv über die Do's und Dont's und bringen in Erfahrung, ob sie mit unserer sexpositiven Haltung vertraut sind."
Vor Ort werden Handykameras abgeklebt, Infostände erinnern an Safer Sex, Desinfektionsmittel und Kondome stehen zur freien Entnahme bereit. Ein 35-köpfiges Team aus geschulten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern achtet darauf, dass sich jeder an die Spielregeln hält: "Sie sollen sicherstellen, dass sich jeder unserer 350 Gäste wohlfühlt, egal ob jung oder alt, erfahren oder Neuling."
Im Unterschied zu anderen Veranstaltern gibt es keinen Dresscode: "Sexpositive bedeutet mehr als Lack und Leder. Jeder soll kommen, wie er sich wohl und sexy fühlt." Damit hat Zack einen Safe Space geschaffen, in dem sich Menschen ausprobieren können.
Grenzenlos
In der LGBT-Metropole San Francisco (LGBT steht abgekürzt für Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender) und Berliner Clubs gehypt, findet das Feier-Konzept auch hierzulande zunehmend experimentierfreudige Anhänger. Dass der angehende Psychotherapeut eine Herrensauna als Spielwiese auserkoren hat, offenbart mit Blick auf die Wurzeln von Sexpositivität eine spannende Provokation. Am aufklärerischen Einfluss der 60-er-Jahre kommt man auf der Suche nach dessen Ursprung nicht vorbei.
Weitaus prägender war aber der Feminismus der 70-er und 80-er Jahre. Sexpositive Feministinnen wandten sich damals gegen pornofeindliche Mitstreiterinnen, die Sex als bloßes Instrument männlicher Machtausübung sahen, und forderten ein Recht der Frau auf sexuelle Lust.
Bewusstseinserweiternd
Sich selbstbestimmt über sexuelle Wünsche auszutauschen kann auch langjährige Partnerschaften bereichern, weiß die Sexualtherapeutin und Paarberaterin Gabriele Aigner. Die Bereitschaft, sich – womöglich lange stummgeschalteten – Fantasien zu widmen und sich auf Neues einzulassen: "Auch das ist Sexpositivität", sagt sie. "Paare, die zu mir kommen, lade ich ein, nachzuspüren, wie sie sich in ihrem Körper fühlen, was sie im Bett mögen und was nicht, was sie erregt, welche Fantasien sie sich ausmalen und was sie vielleicht noch nie gewagt haben auszusprechen."
Ob Sex in unserer Gesellschaft freier geworden ist? "Ja, und nein. Natürlich herrscht größere Offenheit als in früheren Generationen. Allein, weil durch die Pille sexuelles Erleben von Fortpflanzung entkoppelt wurde. Ich erlebe aber auch, dass Menschen mit dem Thema Sexualität überfordert sind. Wenn Jugendliche Massenorgien in Pornos sehen, bevor sie zum ersten Mal geküsst haben, kann das zu großer Verunsicherung führen."
In vielen Beziehungen weicht die Leidenschaft irgendwann der Langeweile. Das erzeugt Druck und Schuldgefühle. Wie geht man sexpositiv damit um? "Raus aus der Komfortzone, darüber reden, sich zum Sex verabreden und zusammen etwas Schönes planen. Wie ein Garten brauchen auch Partnerschaft und Sexualität Pflege – und neue Impulse. Dann bleibt es aufregend."
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