Reden wir über 2020: Wie das Krisenjahr für Kinder war
Als der Begriff „lost“ im Herbst zum deutschen Jugendwort des Jahres gewählt wurde, waren sich die Teenager einig: Endlich wieder ein Wort, das sie verwenden. Was passt besser zum Jahr 2020 als „verloren sein, keinen Plan haben“. Heuer haben Kinder und Jugendliche eine Menge verpasst. Um so wichtiger ist es jetzt, mit ihnen gemeinsam durchzudenken, wie sie diese Zeit erlebt haben. Wo sehen die Experten die größten Probleme und worüber sollten Eltern mit ihren Kindern sprechen?
Wir fühlen uns unsicher
Dass die Routine ausfällt, bedeutet für Kinder und Jugendliche nicht nur, dass ihnen langweilig wird, betont Psychiaterin Beate Schrank von der Uni-Klinik Tulln. „Es brechen für die Kinder auch Rituale weg, die sie auf die nächsten Schritte ihres Lebens vorbereiten sollen. Der Schnuppertag in der neuen Schule, das Zelebrieren des ersten Schultages, die Vorbereitung auf die Matura, sogar Übersiedeln zum Studieren. Diese Unsicherheit macht Angst“, so die Expertin der Ludwig-Boltzmann-Gesellschaft. Sie erlebt mehr Kinder und Jugendliche, die bisher keine psychischen Auffälligkeiten hatten und jetzt Angstsymptome zeigen. „Bei Kindern, die sich schon schwergetan haben, führt die Krise zu noch größerer Belastung.“
Wichtig ist, diese Unsicherheiten anzusprechen und ernst zu nehmen, auch wenn sie nicht dramatisch wirken. Manche Jugendliche machen sich auch grundsätzliche Sorgen, etwa ob sie eine Lehrstelle bekommen werden oder sie als Corona-Generation stigmatisiert werden. Solche Themen müssen sachlich besprochen werden, etwa wenn ein Lehrlingsförderungspaket oder Matura-Richtlinien veröffentlicht werden.
Die Verantwortung lastet schwer auf uns
Seit Beginn der Pandemie wurde kommuniziert, dass die Jüngeren die Älteren schützen müssen und falsches Verhalten eine Gefahr für die Familie darstellt. Monika Culen von der Liga für Kindergesundheit stört dieser Zugang: „Studien zeigen, dass vor allem Kindergarten- und Volksschulkinder große Sorgen haben, im Besonderen ihre Großeltern anzustecken.“ Für Aufregung sorgte kürzlich ein Werbespot mit einem Kind im Babyelefanten-Kostüm, das sich schwertut, für Abstand zu sorgen. Culen sah darin ein ganz falsches Signal: „Wir wissen, dass Kinder, die im Familiensystem Verantwortung für ihre Eltern übernehmen (müssen), überfordert und nachhaltig sehr belastet sind.“ Den Kindern muss ganz klar kommuniziert werden: Große passen auf Kleine auf, nicht umgekehrt.
Uns fehlen die Freunde
Homeschooling und der Wegfall von Programm sind für Kinder und Jugendliche mehr als nur ein Ärgernis, ihnen fehlt der soziale Kontext für die Entwicklung. Schrank: „Das ist die Zeit, in der Kinder lernen, wie sie mit Konflikten umgehen, ihre Rolle im sozialen Leben definieren. Wo sie Erlebnisse mit ihren Freuden teilen, Erfahrungen sammeln. Ausgehen. Sich verlieben.“ Pubertät eben.
Berechtigt wie nie ist das Phänomen „fear of missing out“, die Angst, etwas zu verpassen. In diesem Fall, weil es gar nicht stattfindet. Da kann es helfen, durchzudenken, was in diesem Jahr alles ausgefallen ist – von Klassenreisen, Feiern oder Urlauben. Und besprechen, wann und wie man das nachholen wird.
KURIER Family mit Beate Schrank
Wir verpassen zu viel Schule
Für Bundesschulsprecherin Alexandra Bosek war die lange Zeit in Lockdowns – fast die Hälfte der Schulzeit – ein großer Nachteil für Schüler, nicht nur für jene, die gar nicht erreicht werden. „Wir können den Stoff nicht so gut, wie wir sollten – und die Lehrer wissen das oft gar nicht.“ Eine Umfrage unter Nachhilfelehrern zeigte: „60 Prozent sehen eine Verschlechterung, nur acht Prozent eine Verbesserung“, so die „Lernquadrat“-Sprecherin, Angela Schmidt. Auch gute Schüler tun sich bereits schwer, die Motivation aufrecht zu halten.
Der Terroranschlag in Wien hat uns Angst gemacht
Fast zwei Monate ist es erst her, dass die Nachrichten über den Terroranschlag in Wien für Entsetzen sorgten. Barbara Buchegger von Safer Internet warnt besonders vor den drastischen Bildern, die in den sozialen Medien kursierten: „Solche Videos brennen sich den Kindern ein, und sie bekommen die Bilder nicht aus dem Kopf.“ Beschäftigt das Kind die Tatnacht noch? Buchegger: „Dann bietet es sich an, zu den Gedenkstätten mit den Kerzen und Nachrichten zu gehen. Dort werden die Bilder mit der positiven Anteilnahme der Menschen überlagert.“
Was fangen wir mit uns an?
So viel freie Zeit hatten vor allem die Oberstufenschüler noch nie. Viele klagen über Antriebslosigkeit, Eltern beschweren sich, dass sie zu viel Zeit mit Computerspielen verbringen. Psychologin Birgit Stetina sieht darin nicht nur einen Grund zur Beunruhigung: „Die Computerspiele sind Rückzugsraum. Manche Erwachsenen glauben, dass die Spieler völlig isoliert sind, aber das stimmt nicht: Bei den meisten Spielen wird online kommuniziert – mit den eigenen Freunden oder auch mit anderen Spielern. Da können Eltern ja auch mal mitmachen.“ Damit sie wissen, was hinter den geschlossenen Türen geschieht und sie besser abschätzen können, wann es zu viel wird und der Computer abgedreht werden muss.
Doch es sollte in den Eltern-Kind-Gesprächen nicht nur um Probleme gehen: Was haben wir erlebt in diesem verrückten Jahr? Geschafft? Gefühlt? Gelernt? Man stellt fest: eine Menge. Wenn man länger darüber nachdenkt, merkt man: Es war doch kein komplett verlorenes Jahr.
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