Neue Perspektiven in der Pandemie: Was Viktor Frankl sagen würde
Pandemie, und kein Ende in Sicht. Was würde uns jetzt der Psychiater Viktor E. Frankl ans Herz legen? Die Logotherapeutin Johanna Schechner im Interview.
Bald ein Jahr Pandemie in Österreich: Am 25. Februar 2020 wurden die ersten zwei Virusinfektionen in Innsbruck registriert, wenig später, am 11. März erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Ausbreitung von Covid-19 zur Pandemie. Seither ist vieles nicht mehr so, wie es war, Pläne wurden durchkreuzt, die Kraft vieler Menschen scheint erschöpft. Sie sagen: Es reicht. Die Krise ist aber noch nicht vorbei. Mehr denn je brauchen wir Stärkung für das Immunsystem der Psyche. Aber was wirkt unterstützend, lindert die Ohnmacht und schafft persönliche Perspektiven?
Fündig werden Suchende zum Beispiel bei den Ausführungen des Wiener Psychiaters und Neurologen Viktor E. Frankl, dem Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse. Seine Bücher sind seit Jahrzehnten Bestseller, seine Gedanken aktueller denn je. Dazu sprach der KURIER mit Johanna Schechner. Sie ist Logotherapeutin und Mitbegründerin des Viktor-Frankl-Museums in Wien.
KURIER: Krise – und kein Ende in Sicht, das viel zitierte „Licht am Ende des Tunnels“ scheint noch entfernt. Viele Menschen sind wütend, resignieren, Jugendliche und Kinder schlittern in die Depression. Welche Botschaft hätte Viktor Frankl für sie?
Johanna Schechner: Frankl sagte: Es ist das Leben, das uns die Fragen stellt, und wir haben zu antworten. Ich glaube, dass dieser Gedanke ein starker Hebel ist. Ja, die Lebensfragen sind momentan nicht lustig, wir sind von einer Pandemie und Wirtschaftskrise bedroht, erleben eine lange Durststrecke. Und dennoch sind wir gefordert, unsere bestmögliche Antwort zu geben, indem wir darüber nachdenken, wozu mich diese Lebenssituation herausfordert. Und wie ich darauf antworten und handeln soll.
Was bedeutet „bestmöglich“ in diesem Sinn?
Darunter versteht Frankl, das Beste für mich und mein Umfeld. Nie nur für mich und nie nur für das Umfeld. Es ist jeder gefragt, gefordert und unersetzbar in seinem Beitrag. Es hat jeder, trotz allem, seinen unersetzbaren Beitrag zu leisten.
Wenn wir an Menschen denken, die um ihre Existenz bangen: Wie können sie diesen Beitrag entdecken?
Es ist, wie erwähnt, wichtig, herauszufinden, wozu diese Situation herausfordert. Welches Zeichen ich setzen möchte, welche Möglichkeit ich als Mensch in meiner Entscheidungsmacht innerhalb meines Freiraums habe. Gemäß der Logotherapie ist der Mensch potenziell willensfrei, weil er wählen kann und es immer Wahlmöglichkeiten gibt. Da ist Kreativität gefordert, nicht nachzulassen, sondern aufzugehen, in einer innovativen geistigen Stellungnahme. Das kann auch etwas eher „Kleines“ sein, indem wir zum Beispiel anderen Menschen beistehen. Die Größe dessen, was getan wird oder wurde, ist egal.
Es geht also darum, wie ich sinnvoll auf meine Lebenssituation reagiere. Ja. Die Fragen sind verschieden, aber die Wozu-Frage ist tatsächlich das entscheidende Element. Weil sie uns den Boden unter den Füßen gibt. Wenn Klienten zu mir kommen, gehe ich mit ihnen in ihren Freiraum, um zu schauen, welche Möglichkeiten es für sie gibt. Heraus aus der Ohnmacht, stattdessen in ein Was kann ich tatsächlich tun? Dabei müssen wir manchmal aus alten Gewohnheiten aussteigen und Neues kreieren. Es ist jeder gefordert, etwas auf die Beine zu stellen, damit Leben besser gelingt.
Das gelingende Leben also.
Ja – und dazu möchte ich ein Original-Frankl-Zitat mitgeben, das er im Konzentrationslager geschrieben hat: Es gibt nichts auf der Welt, das einen Menschen so sehr befähigte, äußere Schwierigkeiten oder innere Beschwerden zu überwinden als: das Bewusstsein, eine Aufgabe im Leben zu haben. Das ist der höchste Psycho-Hygienefaktor. Wir alle wollen in Ohnmachtszeiten auf der Erde landen, indem wir eine sinnvolle Aufgabe erfüllen können. Da gibt es viele Möglichkeiten, auch im Kleinen etwas Entlastendes tun. Zum Beispiel ein schönes Nachtmahl richten, in schlechten Zeiten oder anderen mit unserem Guglhupf eine Freude machen. Einen Beitrag zu leisten, macht uns auch in der Krise zufrieden.
Sie sind selbst Logotherapeutin, wie sehr spüren Sie die aktuelle Krisensituation in der Praxis?
Ohnmacht hat es immer gegeben, wenn schwere Schicksalsfragen gekommen sind. Doch die Pandemiesituation triggert Ängste und nährt Hoffnungslosigkeit. Frankl aber sagt: Das Leben hat unter allen Umständen Sinn. Wenn sich jeder Mensch dieses Credo zu Herzen nimmt, kann er sagen: Ja, mein Leben hat, egal, wie die Umstände auch sein mögen, Sinn. Bedingungslos. Er kann sagen, auch, wenn mich die Pandemie stresst, hat mein Leben Sinn. Ich bin wichtig für die Welt, ich kann meinen Beitrag leisten. Der Schwerkranke, indem er sagt, ich gebe mein Einverständnis, mich pflegen zu lassen. Der pumperlgesunde Arbeitslose, der sich nicht entmutigen lässt.
Manche Menschen fühlen sich durch die Krise in ihrer Freiheit eingeschränkt, reden von Diktatur. Was würde Frankl dazu sagen, der die Wucht einer Diktatur am eigenen Leib erfahren hat?
Wenn ich nur auf mich und meine Bedürfnisse schaue, dann wirkt jedes Gesetz, das mich einschränkt, als Frechheit. Wenn ich mich aber als Mensch im Kontext einer Gemeinschaft umsehe, wenn ich also über meine Bedürfnisse hinausschaue – dann bin ich in der Sinnintention. Ich werde da zwar bemerken, dass manches traurig ist, und ich auf vieles verzichten muss, aber es besser aushalten. Ich verzichte – aus Liebe oder aus Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft. Ich blicke über mich selbst hinaus.
Frankl sagt: „Die Welt ist nicht heil, aber heil-bar“. Ist das eine Botschaft für die Zeit nach dieser Krise? Auch im Hinblick darauf, dass die Pandemie zur gesellschaftlichen Spaltung führt?
Auf jeden Fall. Aktuell vermisse ich den Versuch, den anderen zu verstehen. Aber auch, differenziert zu denken und zu sprechen, denn Pauschalieren erzeugt Polarisieren. Wenn ich versuche, den anderen zu verstehen, könnten sich neue Perspektiven entwickeln. Die Krise sollte dazu führen, mehr in die Umwelt oder in die Pflege zu investieren, sich in vorher unpopuläre Gebiete hineinzudenken und die Menschen dafür zu interessieren. Wenn wir differenzierter zuhören, weniger verurteilen, bewerten, abwerten und entlarven, stattdessen das Einende sehen, habe ich Hoffnung. Dann kann die Welt heilbar sein, dann wird sie heilen.
Ein Menschheitsanliegen, im Frankl’schen Sinne also?
Absolut. Es geht um den Gedanken an die „eine Menschheit“ im Sinne des Monanthropismus. Ein Begriff, den Frankl prägte. Er war kein Guru, sondern einer, der aus der gesamten Menschheit die Weisheit zur Heilung des Einzelnen zusammengestellt hat, auch als Philosoph. Wir sind eine Menschheit, überkonfessionell, in der Vielfalt und der Sehnsucht nach Frieden, nach einem „jeder macht das Sinnvollste für sich und sein Umfeld“. Dazu beginnen wir nun im Viktor-Frankl-Museum mit der vierten Ausbaustufe. Es geht uns um die Menschheitsweisheit, die Sehnsucht, dass sich der ganze Globus solidarisch besinnt, auf Umweltschutz, Pflege, auf neue Ideen, um weniger Fußabdruck zu erzeugen.
Der Mensch ist nicht frei von seinen schicksalhaften Bedingungen, aber frei, zu diesen Bedingungen Stellung zu nehmen. Mit Zitaten wie diesen inspiriert der Neurologe und Psychiater Univ.-Prof. Viktor E. Frankl (1905–1997) auch heute noch, ebenso wie mit seinem Buch „… trotzdem Ja zum Leben sagen“. Seine Bücher sind bisher in 45 Sprachen erschienen. Zeit seines Lebens widmete sich Frankl der Suche nach Sinn. Dabei stellt er den leidenden Menschen in den Mittelpunkt – mit seinem unabänderlichen Schicksal.
Dem Leben des Wiener Arztes sowie seiner Lehre der Logotherapie und Existenzanalyse ist ein eigenes Zentrum und Museum gewidmet – in der Mariannengasse 1, 1090 Wien, wo Frankl einst wohnte. Kein Museum im klassischen Sinn, weil es aus „Erlebnisräumen“ besteht, in denen Besucher Frankls Thesen praktisch und nahbar selbst erleben können. Aufgrund der Größe (circa 80 m²) ist das Museum derzeit geschlossen. Die Wiedereröffnung ist voraussichtlich am 26. März geplant – dem 116. Geburtstag von Viktor Frankl. Info: franklzentrum.org
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