Mai Thi Nguyen-Kim hat ein starkes Jahr hinter sich: Die deutsche Wissenschafterin (33) wurde Journalistin des Jahres, ein Corona-Video auf ihrem Kanal „maiLab“ war meistgeklickter Youtube-Clip, ihr Buch „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ ist ein Besteller, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zitierte sie im Bundestag, und sie hat ein Baby bekommen. Jetzt ist sie vom KURIER für die ROMY nominiert.
KURIER: Ihr Youtube-Video über Corona hatte sechs Millionen Zugriffe, und Sie können als Influencerin die Meinung vieler, vor allem junger Zuschauer beeinflussen. Ist das ein Fluch oder ein Segen?
Mai Thi Nguyen-Kim: Beides. Natürlich habe ich Sorge, vielleicht doch mal Fehler zu machen. Oder mich missverständlich auszudrücken und zu wissen, dass so viele Menschen das sehen und darauf vertrauen. Gleichzeitig ist es eine unglaubliche Chance für Wissenschafterinnen oder Wissenschaftsvermittler wie mich. Sonst mussten wir um Aufmerksamkeit kämpfen. Jetzt haben wir fast das gegenteilige Problem – herauszufinden, wie man am besten mit den Reaktionen umgeht.
Sie haben in den USA gearbeitet, konkret an den Elite-Unis MIT und Harvard. Wie hat Sie das geprägt?
Das war augenöffnend für mich. Als ich dort zum ersten Mal auf einer Konferenz ein Forschungsprojekt vorstellen sollte, hat mein Betreuer das zwei Wochen mit mir geübt. Er hat gemeint: „Wenn du die Zuhörer nicht direkt in der ersten Sekunde zu dir ziehst, dann sitzen die vor dir und denken an etwas anderes. Da kannst du auch gleich zu Hause bleiben.“ Es geht nicht um mich und mein tolles Projekt, sondern um meine Zuhörer. Und während der Doktorarbeit habe ich in Deutschland so einiges ausprobiert – mit Science Slams (Rede-Wettbewerben, bei denen Wissenschafter Projekte vorstellen, Anm. d. Red.) und mit den Youtube-Videos.
Ihre Bücher sind im Ton von US-Wissenschaftern geschrieben – einfach, unterhaltsam, und sie enthalten auch Persönliches. Warum machen das so wenige Forscher im deutschsprachigen Raum?
Es gibt in Österreich auch ganz tolle Leute, etwa Martin Moder oder Florian Aigner. Aber ich kenne viele Wissenschafter, die sich nicht herablassen wollen – denn für das gemeine Volk sind ihre Themen ja zu kompliziert. Mit so einer Einstellung kann man nicht gut kommunizieren. Man muss das Publikum schätzen und den Leuten zutrauen, dass sie das verstehen können. Und das können sie definitiv.
Internet-Trolle und Hasspostings wollen Sie bewusst nicht an sich heranlassen. Wie gelingt das?
Ich versuche, mich möglichst wenig damit zu befassen. Aber es ist menschlich, sich dafür zu interessieren, was andere über einen denken. So funktionieren die sozialen Netzwerke. Ich habe meine Geheimwaffe: unsere einjährige Tochter. Ich habe noch nie so wenig Zeit in den sozialen Medien verbracht. Die Mutterrolle hat dazu geführt.
Sie hätten eine riesige Angst vor Fehlern, haben Sie einmal in einem Interview gesagt. Sind Ihnen schon welche passiert?
Einmal hat Lars, unser Schlafforscher, beim Thema Jetlag und Schlafmangel Ost und West verwechselt. Es ist ihm durch die Lappen gegangen und mir natürlich auch. Total ärgerlich. Wenn so etwas passiert, erwähnen wir es in den Video-Kommentaren. Und wenn es etwas ganz Arges wäre, würden wir das Video löschen. Aber das hatten wir noch nie.
Gibt es ein Video, auf das Sie besonders stolz sind?
Das Video, das mir momentan am meisten am Herzen liegt, heißt „Versöhnung“. Ich verspüre wirklich einen persönlichen Frust aufgrund der sehr feindseligen Debattenkultur. Nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch im Fernsehen. In den Talkshows ist alles auf Konflikt ausgelegt. Das war letztendlich auch die Hauptmotivation für mein Buch „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“. Ich sage gar nicht, wir sollten uns weniger streiten, aber einfach besser, konstruktiver, respektvoller.
Im Interview mit Barbara Schöneberger – auch eine ROMY Preisträgerin – haben Sie betont: Ich bin keine Streberin! Wie war Ihre Schulzeit?
Ich war insofern eine Streberin, als dass es mir Spaß gemacht hat, guten Noten hinterherzujagen. Mir waren meine Freunde wichtig und coole Klamotten – und ich war schon immer eher extrovertiert.
Bücher, TV, Youtube – wie viel Disziplin und Glück braucht so eine Karriere?
Von allem viel und auch Timing. Als ich gerade meine Dissertation abgegeben hatte, wurde die Plattform Funk gegründet und ich rekrutiert – da hatte ich einen winzigen Youtube-Kanal. Ich weiß gar nicht, wie sie mich gefunden haben. Von da an lief es immer gut. Die TV-Sendung „Quarks“ war zudem eine große Bühne. Ich habe enorm viel von Ranga Yogeshwar gelernt (Kollege bei Quarks, Anm.). Er ist von Herzen Wissenschafter und wollte etwas vermitteln, nicht nur vor der Kamera stehen. Er meinte immer, ich darf nicht einfach nur Moderatorin sein.
Wo ist eigentlich der kleine Raum mit den türkisfarbenen Wänden, in dem Sie Ihre Videos aufnehmen?
Bei mir zu Hause, das ist wirklich mein Homeoffice. Wir haben MaiLab schon vor Corona zu Hause produziert. Wir sind vier Leute im Team – lauter junge Eltern übrigens –, drei davon Wissenschafter. Der eine Kollege sitzt in Düsseldorf, der andere in Heidelberg und ich in Frankfurt.
Wir gehen ungefähr alle zwei Wochen online und dazwischen arbeiten wir Vollzeit daran. Wir recherchieren Themen, und es kann sein, dass nichts daraus wird und wir ein neues aussuchen. Jetzt haben wir zum Beispiel gesehen, dass wir unbedingt etwas zum Impfstoff von Astra Zeneca machen müssen (hier das neue Video).
Ihr Mann, ihr Vater und ihre Brüder sind auch Chemiker. Werden Sie Ihre Tochter bei so einer Tradition gleich in einen Naturwissenschaftskindergarten schicken?
Ich glaube, bei uns gibt es genug Chemie. Das war bei mir und meinem Papa auch so. Ich hatte keinen Chemiebaukasten, aber dafür hat er mir beim Kochen erklärt, was da geschieht. Chemisch. Warum etwa die Soße dick wird und warum Zucker mit Fleisch gut passt. So ist der Funke schließlich übergesprungen.
Mai Thi Nguyen-Kim wurde 2020 mit dem deutschen Bundesverdienstkreuz, als Journalistin des Jahres und für das meistgeklickte Video des Jahres, ihr Corona-Video, ausgezeichnet. Ihr neues Buch ist ein Bestseller.
Karriere
Die Chemikern startete 2015 mit einem Kanal auf Youtube, später als Moderatorin im TV bei "Quarks". Jetzt engagiert das ZDF sie fix.
Familie
Ihre Eltern stammen aus Vietnam. Vater und Ehemann sind Chemiker. 2020 wurde ihre Tochter geboren.
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