Inklusive WG: Für Sonja erfüllt sich ein Traum
Großes Hallo an diesem Dezemberabend in der Wohn-Küche, die von ihren enormen Ausmaßen an den Warteraum eines Provinzbahnhofs erinnert. Sonja ist schon da. Sie sitzt in einem Rollstuhl und kommuniziert mit ihrer Betreuerin Sophia über ein spezielles Spracherkennungssystem. Der Reihe nach treffen in den nächsten Minuten die anderen Mitbewohner ein, auch Eva und Nives vom Verein „Integration Wien“.
Dieser Verein wurde in den 1980er-Jahren von engagierten Eltern gegründet und setzt sich seither für die Inklusion von Menschen mit Behinderung ein. Einiges, was anfangs als Utopie formuliert wurde, ist inzwischen Realität geworden.
Im dritten Stock eines neu errichteten Wohnhauses in der Seestadt in Wien-Aspern wurde im Frühjahr eine europaweit einzigartige Wohngemeinschaft bezogen: Von acht Menschen, die behindert oder nicht behindert sind – das soll von vornherein keinen Unterschied machen. Jeder Bewohner hat sein eigenes Zimmer, für Sonjas Betreuerin wurde dazu ein eigenes Dienstzimmer eingerichtet. Womit sich die außergewöhnliche Größe von 450 ergibt.
Eine traumhafte Idee
„Lebe bunt“: So wird die inklusive Wohngemeinschaft tituliert. Ihre Gründung und der laufende Betrieb wird vom Fonds Soziales Wien gefördert. Das Zauberhafte an dieser WG ist aber, dass die Idee dafür von Sonja ausging. Die 25-jährige Wienerin tippt in ihren Computer und eine Stimme gibt wieder: „Ich wollte so wie mein älterer Bruder von zu Hause ausziehen, in meine eigene Wohnung.“ In Eva und Nives fand Sonja Unterstützerinnen. Die Sozialarbeiterin Eva sagt: „In Deutschland gibt es schon mehrere inklusive Wohngemeinschaften.“ Projektleiterin Nives fügt hinzu: „Doch in vielen dieser WGs ist es so, dass Bewohner ohne Behinderung betreuende Tätigkeiten leisten.“
Die Wiener WG ist anders, ist einen Schritt weiter. Christiane, eine gebürtige Kärntnerin, die in Wien Architektur studiert, hat von „Lebe bunt“ zum ersten Mal auf dem Schwarzen Brett ihrer Universität gelesen. Heute ist sie sehr froh, dass sie sich auf dieses Experiment eingelassen hat. Nach den ersten Monaten resümiert sie: „Ich bin zu Hause in einer Familie mit vier Kindern aufgewachsen. Wir sind auch hier wie eine große Familie. Immer ist wer da, mit dem man sich unterhalten kann.“
Die Studentin freut sich auch über einen Lerneffekt: „Ich habe zuvor keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderung gehabt. Heute sehe ich sie mit anderen Augen. Das Zusammenleben ist für mich eine Bereicherung.“
Wiener Wege nach Aspern
Ein Glück für alle Beteiligten war auch das partizipativ geführte Projekt „Wiener Wege zur Inklusion“, an dem sich ein Jahr lang 200 Betroffene und Experten beteiligt haben. Am Ende des einjährigen Prozesses wurde unter anderem entschieden, dass in der Seestadt Sonjas WG-Idee umgesetzt werden soll.
Sonjas Betreuerin Sophia studiert Theaterpädagogik. Sie teilt sich die Nachtdienste in der Seestadt mit vier Kolleginnen. Auch sie ist vom bunten WG-Leben angetan. „Meine Arbeit ist mehr als eine Arbeit.“
Sonja hat nach den positiven Erfahrungen bereits eine neue Vision: Sie möchte „Lebe bunt“-WGs in allen Wiener Bezirken etablieren, damit die Anfahrtswege zu den betreuten Werkstätten, zu Universitäten und Arbeitsplätzen kürzer werden. Noch klingt das wie eine Utopie. Doch auch vor der Gründung der WG schien noch so manches völlig unrealistisch.
Ausgezeichnet
Österreichischer Inklusionspreis: Große Freude: Für die erste inklusive Wohngemeinschaft für Menschen mit und ohne Behinderung wurden der Fonds Soziales Wien und der Verein „Integration Wien“ mit dem öster. Inklusionspreis ausgezeichnet. Dieser wurde heuer zum dritten Mal von der Lebenshilfe in Kooperation mit den Österreichischen Lotterien verliehen.
Verein „Integration Wien“: Der Verein arbeitet seit 1986 für die Integration von Menschen mit Behinderung. Nähere Infos über dessen Aktivitäten sowie Spenden-optionen: https://www.integrationwien.at/index.php/de/
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