Der Lockdown als Liebestöter? Was dagegen hilft
Sex boomt in Krisenzeiten, heißt es oft. Für die Pandemie gilt das eher nicht, wie etwa eine Online-Umfrage aus Italien zeigt, die im Journal Urology veröffentlicht wurde. Das Gros der Teilnehmer gab an, dass sich der Lockdown negativ auf die Sex-Frequenz ausgewirkt hätte. Allerdings nicht der Libido-Baisse wegen, sondern weil es an Privatsphäre oder an „psychologischen Anreizen“ fehlte. Dazu kamen existenzielle Ängste, auch der Lockdown-Look (Pyjama, Jogginganzug) wurde als Lustbremse angeführt.
Nicole Siller kommt das bekannt vor. Die Sexualberaterin hat mehr denn je zu tun. Das Liebesleben von Paaren sei aktuell ein Riesenthema, erzählt sie. Während sie nach dem ersten Lockdown viele Trennungen begleiten musste, gehe es Paaren nun darum, die Situation als Veränderungschance zu begreifen und die Sexualität neu zu entdecken. Mit ihrem neuen e-Book will sie dazu inspirieren.
Wie es um uns steht
Wenn es im Außen an Ablenkungen fehlt, erkennen viele, wie es um ihre Beziehung wirklich steht. Verdrängte Probleme, wie ein müde gewordenes Begehren, werden in Angriff genommen, weil Zeit dafür ist. Jetzt oder nie.
Nicole Siller will Paare aus dem Dilemma lotsen, indem diese eine neue Bewusstseinsebene für sich definieren. Eine Frage der Entscheidung, Hinwendung und – pragmatisch – der Organisation. „Sie müssen aktiv dafür sorgen, dass sie gemeinsam Sinnliches erleben können. Das ist ein bewusstes Wahrnehmen und Gestalten – dabei sind beide Partner gefordert.“ Gerade im Lockdown ist es möglich, seine Bedürfnisse herauszuarbeiten: Was will ich wirklich, ohne dass ich aus Angeboten im Außen wählen kann? Wichtig: „Denn wer nicht weiß, wie es ihm geht und wonach ihm ist, hat es schwer, ein lustvolles Wir zu gestalten.“
Aber was bedeutet ein „lustvolles Wir?“ in Langzeit-Beziehungen – und in einer Pandemie? Nicole Siller lächelt, die Frage hat sie schon oft gestellt bekommen. „Es heißt, dass die Partner ihre Sehnsüchte kennen und jeder sensibel genug ist, zu spüren und zu fragen, was der andere braucht. Um gemeinsam herauszufinden, was lustvoll und sinnlich ist.“
Meist Dinge, die nichts mit den gängigen Vorstellungen von Sex zu tun haben. Statt gierigen, schnellen Geschlechtsverkehrs gilt es vielmehr, freudvolle Momente zu entdecken. „Das kann beim Kochen, Tanzen oder Spazierengehen sein. Alle Augenblicke, in denen wir in einen sinnlichen Zustand kommen. „Sexualität ist so viel mehr als Geschlechtsverkehr oder zielorientiertes Vorspiel zum Koitus und auch etwas völlig anderes als eine Performance à la Porno. Ein lustvoller Zustand entsteht durch subtile Erotik, Berührung, Verführung, Freude, ein positives Körpergefühl und das Spiel mit den Sinnen“, sagt die Sexualberaterin. Was rieche ich gern, was mag ich, wann fühle ich mich wohl?
Wichtige Wir-Zeit
Besonders gefordert sind Paare mit Kindern, oft auf engem Raum. „Hier braucht es gute Organisation und noch mehr intensiven Austausch darüber, was jeder für sich benötigt“, rät Siller. Die „Wir-Zeit“ müssen sich Paare oft hart erarbeiten, und dennoch sollte klar sein, wann sie Eltern sind und wann nur Frau und Mann. „Ab einem gewissen Alter kann man Kindern ruhig kommunizieren, dass sich die Eltern zurückziehen dürfen und die Tür zum Schlafzimmer geschlossen bleibt. Dadurch lernt das Kind, Grenzen zu respektieren.“
Und was, wenn das Abschalten vor lauter Alltag gar nicht mehr funktioniert, und die Lust unterm Sorgen- und Wäscheberg verschwindet? Siller: „Statt verkrampft alles Belastende wegzuschieben, sollte man ins Spüren gehen: Was fühle ich gerade, wo sind meine Hände, wo werde ich berührt? Durch die Konzentration auf die Sinne kommt man schneller bei sich an und kann genießen.“
Kommentare