Offene Beziehung als Wachstumschance
Kathrin Weidner ist mit ihrem Freund seit sechseinhalb Jahren zusammen, viereinhalb Jahre lang leben die Beiden schon in einer offenen Beziehung. Sie sieht das vor allem als Chance, sich persönlich zu entwickeln. Daher schreibt sie auf Instagram auch, dass sie sich als „Wachstumsjunkie“ sieht - und als „Authentizitätsnazi“. Was genau soll das heißen? Kathrin Weidner lacht: „Den zweiten Begriff habe ich mir von einer Kollegin geliehen, aber das mit dem Wachstumsjunkie ist definitiv so. Wenn man nämlich nicht bereit ist, sich mit sich selbst auseinander zu setzen, mit seinen Schatten und Ängsten, sich alten Glaubenssätzen und Mustern, die sich eingeprägt haben, zu stellen, dann wird das nicht funktionieren.“
An dieser Stelle spricht sie über die Situationen, mit denen man im Rahmen einer offenen Beziehung konfrontiert wird, „die sehr tiefsitzende Ängste in einem triggern, wie etwa Eifersucht oder Verlustangst“. Damit sei man beim Thema Selbstwert und der Frage „Bin ich es wert, geliebt zu werden?“ Mit alldem müssen sich Menschen, die in offener Beziehung leben, gründlich auseinandersetzen. „Das bedeutet aber auch die Chance, an all diese Themen ranzukommen und sie an die Oberfläche zu bringen. Um sie letztendlich für sich zu transformieren und zu schauen, wer ich bin und was ich von meinem Partner erwarte.“ Weiters gehe es auch darum, die Beziehung aktiv und gemeinsam mit dem Partner zu gestalten. Weidner: „Dazu gehört eine offene und ehrliche Kommunikation, um zu erfahren, was im Partner wirklich vorgeht und nicht nur Schönes sehen und erleben zu wollen. Man muss die Ängste und Abgründe des Partners wahrnehmen können.“ Ein Wachstumsprozess, bei dem man sich gegenseitig unterstützt.
Mit der Freiheit, die so eine offene Beziehung bringt, musste die junge Frau aber erst lernen, umzugehen. Kathrin Weidner bezeichnet sich gerne als „situativ offen“, heißt: Sie sucht nicht aktiv nach Dates oder ist auf einschlägigen Dating-Plattformen unterwegs. „Wenn sich die Gelegenheit ergibt, etwa wenn ich alleine am Wochenende weg bin, im Urlaub oder auf einer Party bin, und jemanden kennenlerne, den ich interessant finde, habe ich die Freiheit, mich diesem Menschen zu nähern, ohne mich einschränken zu müssen. Das kann eine einmalige Sache sein, man trifft sich, findet einander toll, knutscht herum und hat vielleicht auch Sex. Das war’s dann, es kann aber auch sein, dass man sich öfter trifft und eine längere Affäre daraus wird – einfach, weil es sich so ergibt.“ Dann lacht sie erneut und sagt: „Bei meinem Partner ist es ähnlich, wobei es bei ihm eher so ist, dass sich mehr Situationen ergeben als bei mir.“
Der Druck der Freiheit
Womit wir bei der Frage des Ungleichgewichts wären – denn macht das Gefühl, der andere würde womöglich mehr daten und mehr „Affären“ haben, nicht ordentlich Druck? In der Beziehung zu ihrem Freund erlebt Kathrin Weidner, was das Ausleben dieser Offenheit angeht, tatsächlich oft ein Ungleichgewicht. „Bei ihm ist es so, dass er ohne Gefühle längere Affären haben kann – ich nicht so.“ Allerdings fügt sie hinzu: „Ich habe aber jemanden, den ich seit drei Jahren kenne, der aber nicht hier wohnt und für den ich auch Gefühle habe. Ich kann ihn aber nur einmal im Jahr eine Woche sehen, aufgrund der Entfernung.“ Und ja - manche Paare würden in einer offenen Beziehung großen Wert darauf legen, dass alles immer ausgeglichen ist. „Wenn der Partner ein Date hat, muss der andere auch ein Date haben, damit sich’s fair anfühlt. Und da höre ich schon von vielen Klienten, dass sie das als druckvoll erleben.“ Was vor allem für Frauen nachteilig sei, weil sie, um zu kompensieren, nicht tun, was sie wirklich tun wollen. „Das ist ein Gleichziehenwollen, statt die Wahrheit zu leben und das, was sie von innen heraus gerne möchten. Da gibt es oft Enttäuschungen, weil diese Frauen Sex mit jemandem haben, mit dem sie das gar nicht wollten".
Den wichtigsten Knackpunkt in Sachen offene Beziehung sieht Kathrin Weidner aber beim Thema „Eigenverantwortung“: „Wenn man daran wirklich wachsen möchte, es als eigenen Lebensweg ansieht und es sich um eine innere Wahrheit handelt, ist diese Eigenverantwortung von großer Bedeutung“. Dabei sei wichtig, sich vom Gedanken zu lösen, der Partner sei an schlechten Gefühlen schuld. Vielmehr müsse man bei sich nachschauen, warum man beispielsweise Eifersucht fühlt, woher sie kommt, was sie genau macht: „Um das als Geschenk zu betrachten, an dem ich wachsen kann.“ Was aber nicht heißen darf, dass der Partner rücksichtslos seine Freiheit einfordern kann. „Es gibt natürlich ein Gleichgewicht und es muss Kommunikation stattfinden, etwa zum Thema Grenzen. Grenzen zu setzen ist wichtig.“
Doch wie viele Menschen sind es nun wirklich, die das Experiment "offene Beziehung" wagen? "Ich habe schon den Eindruck, dass immer mehr Frauen und Männer nach alternativen Konzepten des Zusammenseins suchen. Was wir jetzt vor allem leben, ist die serielle Monogamie, also dass man nacheinander Beziehungen hat. Das ist im Prinzip aber gar keine echte Monogamie, weil die Beziehung endet, wenn einer fremdgeht oder der andere sich für jemanden Neuen interessiert“, meint Kathrin Weidner. Die offene Beziehung sei aus ihrer Sicht eine gute Alternative, um sich lebendig zu fühlen und mit anderen Menschen zu verbinden. „Dabei geht es aber nicht darum, rücksichtslos und kalt einfach nur Sex mit jemandem zu haben, sondern sich frei und selbstbestimmt zu fühlen. Eine offene oder auch polyamore Beziehung ist ein hervorragender Weg, um mit dem Thema Fremdgehen und Untreue anders umzugehen.“
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