Wenn Kevin Systrom gefragt wird, wann ihm die Idee zu Instagram kam, erzählt er die Episode vom Strand. Beim Spazierengehen beklagte sich seine Freundin, dass ihre Handy-Fotos – Apple hatte gerade das erste Smartphone lanciert – nicht schön seien, was dem umtriebigen Softwareentwickler den nötigen Aha-Moment bescherte. Wenig später, im Oktober 2010, war „Instagram“ – aus „instant“ (sofort) und „telegram“ (Telegramm) – im App-Store abrufbar: ein Onlinedienst zum Teilen, Kommentieren und Bearbeiten von Handy-Fotos mittels Filtern. Er selbst lieferte den ersten Beitrag, ein Bild seines Welpen mit der Unterschrift: „test“.
In dem Meer aus Bildern, das seitdem auf „Insta“ gepostet wurde, wirkt der Schnappschuss heute bemerkenswert unspektakulär. Die App, die zur digitalen Begegnungszone von einer Milliarde Menschen wurde, hat die Vorstellung von Fotografie und Ästhetik grundlegend verändert – ganz gleich, ob es sich um den Inhalt der Müslischüssel, Urlaubsziele oder Schönheitsideale handelt. Plötzlich formten junge Frauen ihre Lippen zu einem „Duckface“, wollten „Thigh Gaps“ und die Sanduhrfigur von Social-Media-Ikone Kylie Jenner. Hotels und Restaurants richteten ihre Architektur danach aus, „instagrammable“ zu sein, mit den Influencern etablierte sich sogar ein neuer Beruf.
Scheinwelt
„Instagram hat die Art, wie wir mobil kommunizieren, grundlegend verändert“, sagt Katja Gunkel, die am Institut für Kunstpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt im Bereich Neue Medien forscht und das Buch "Der Instagram-Effekt: Wie ikonische Kommunikation in den Social Media unsere visuelle Kultur prägt" geschrieben hat. „Es ist dort ja gar nicht möglich, ohne Bild zu posten. Viele Nutzer haben dadurch den Anspruch entwickelt, in jeder Situation perfekt aussehen zu müssen.“
Die vermeintliche Makellosigkeit im globalen Bilderbuch konterkariert den ursprünglichen Charakter der App, nämlich Fotos möglichst ungekünstelt und in Echtzeit ins Netz zu befördern. Heute ist Inszenierung auf der Plattform Programm, wer die ästhetischen Kriterien nicht erfüllt, wird im Rennen um „Likes“, der Instagram-Währung für Popularität und Erfolg, rasch abgehängt. „Wir wissen aus Studien, dass die permanente Bewertung einen großen Druck erzeugt, entsprechen zu müssen“, sagt Gunkel. Vor zwei Jahren schlugen plastische Chirurgen in den USA Alarm: Immer mehr junge Frauen würden in den Ordinationen den Wunsch äußern, so auszusehen wie auf ihren bearbeiteten Selfies.
1 Mrd US-Dollar
bezahlte Facebook, als es die App 2012 übernahm. Heute ist sie etwa das Hundertfache wert
240 Millionen User
folgen Cristiano Ronaldo – so viele wie niemandem sonst. In Österreich hat David Alaba die Nase vorn (5,3 Mio.)
55 Millionen Likes
erhielt das „world record egg“. Das Ei war 2019 mit dem Ziel gepostet worden, den Rekord von Kylie Jenner zu brechen
Instagram hat aber nicht nur die bildliche Darstellung von Alltag geändert, sondern auch den Alltag selbst, gibt die Wiener Soziologin Maria Schlechter zu bedenken. Wohl jeder, der in den vergangenen Jahren mit internetaffinen Freunden in einem schicken Lokal essen war, kann das bestätigen: Vor dem ersten Bissen wird der Teller ins rechte Licht gerückt und abfotografiert. „Insofern prägt Instagram auch, wie wir Tätigkeiten im Alltag nachgehen und was wir wahrnehmen“, sagt Schlechter. „Das Posten von Bildern ist Teil des Alltags geworden und meist so routinisiert, dass es nur wenige Sekunden in Anspruch nimmt.“
Zeitgeist
Auch im virtuellen Raum folgt auf jeden Trend ein Gegentrend. Und so findet auf Instagram seit Kurzem eine starke Politisierung statt, gesellschaftskritische Bewegungen wie MeToo, Body Positivität oder Black Lives Matter fanden im hippen Heileweltkosmos eine überraschende Plattform. Immer mehr „Sinnfluencer“ nutzen ihre Reichweite, um über Umweltprobleme, Rassismus oder psychische Erkrankungen aufzuklären – „woke“ heißt das in der Jugendsprache. „Positiv ist auch, dass queere Personen eine Community gefunden haben“, sagt Kulturpädagogin Gunkel. „Für sie ist das eine wahnsinnige Bereicherung.“
Auch über Verschönerungsfilter und vorteilhafte Posen wird fast selbstverständlich hingewiesen, um Teenagern kein falsches Ideal zu vermitteln. Gerade der Mut zum Makel wird immer mehr zu einem Garant für Likes – eine Entwicklung, mit der Kevin Systrom vor zehn Jahren wohl nicht gerechnet hätte.
„Die sozialen Medien wurden bereits als noch süchtig machender beschrieben als Zigaretten und Alkohol.“ Das schreibt die Autorin Nena Schink in ihrem Anfang 2020 erschienenen Buch „Unfollow!: Wie Instagram unser Leben zerstört“ (Eden Books). Darin geht sie mit der auf der Plattform häufig präsentierten Scheinwelt und ihrer eigenen Beziehung zu der App hart ins Gericht: Mehr als zwei Stunden täglich war sie lange Zeit selbst auf Instagram aktiv. Wie es laut ihr gelingen kann, den Konsum zu reduzieren:
ausschließlich Accounts folgen, für deren Inhalte man sich wirklich interessiert
ein tägliches Zeitlimit (30 Minuten) setzen
immer wieder Instagram-Pausen einlegen, zum Beispiel am Wochenende
bewusst Inhalte konsumieren, die glücklich machen
Accounts regelmäßig aussortieren
hinterfragen, was man sieht und warum man etwas selbst postet
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