Am Naschmarkt: Christian Seilers Streifzug durch das Ende eines Spätsommerabends
An den letzten Tagen, an denen der Sommer sich gespürt hat und die Sonne mit großer Entschlossenheit auf die Stadt hinunterbrannte, habe ich große Spaziergänge gescheut. Mir war – seltsam, das heute zu sagen – zu heiß. Statt in die eine oder andere Gartenwirtschaft zu gehen und der Hitze mit kühlen, schaumigen Getränken entgegenzutreten, verließ ich das Haus erst, wenn die Dämmerung sich ankündigte.
Das tu ich auch jetzt, um mich an den Hochsommer zu erinnern. Einer meiner Lieblingsdämmerungswege führt mich von der Stubenbrücke durch den Stadtpark. Zwar bin ich tieftraurig darüber, dass die Lemuren von Franz West, die vier merkwürdigen Köpfe, die viele Jahre lang die Brückenköpfe geschmückt haben, abmontiert und dem öffentlichen Raum entzogen wurden. Aber vielleicht ist dieses Verschwinden ja auch eine Aufforderung an die neue Direktorin des MAK, Lilli Hollein, den öffentlichen Raum in Zukunft auf neue Weise zu erobern.
Wo die Welt endet
Ich gehe jedenfalls die Promenade am Wienfluss entlang, weil hier der Himmel so hoch und der Westen in bezaubernde Farben getaucht ist. Ernst Molden hat einmal geschrieben, dass hinter dem Stadtpark die Welt endet. Wenn aber die Abenddämmerung uns den schönsten Teil des Spätsommertags ankündigt, neige ich dazu, das Gegenteil zu glauben: Von dort hinten grüßt die kosmische Werkstatt der schönsten Farben und Stimmungen, in die wir uns einwickeln können, ohne bei Missoni einkaufen zu müssen.
Ich folge dem Licht, gehe am Intercontinental vorbei, am Konzerthaus, überquere den Karlsplatz und biege in den Naschmarkt ein. Auf der linken und der rechten Wienzeile bewegt sich einiges an Verkehr. In den Lokalen, die am Naschmarkt eingezogen sind, herrscht Hochbetrieb, ich aber gehe zwischen den Standeln, die inzwischen geschlossen sind, stadtauswärts und genieße den Schwebezustand zwischen Tag und Nacht, zwischen Geschäftigkeit und Ermattung, zwischen Pflicht und Kür, bis ich bei der U-Bahn-Station Kettenbrückengasse stehe und noch einmal – das letzte Mal für heute – das Licht im Westen genieße.
Prost im "Phil"
Ich biege nach rechts ab und gehe über die Stiegengasse hinauf zur Gumpendorferstraße, auf der ich – jetzt nicht mehr den Rest des Tags, sondern die anbrechende Nacht im Blick – zurück Richtung Innenstadt gehe, zufrieden, dass ich diesen Sommertag bis an seine Neige ausgekostet habe.
Im Schanigarten des „Phil“ ist ein Platz frei. Ich setze mich, bestelle mir ein kleines Bier, jetzt erlaube ich mir das, und während ich mit der Entscheidung ringe, mir in der fein sortierten Buchhandlung etwas zum Lesen zu holen oder einfach ins posttropische Narrenkastl zu schauen, sehe ich einen Herren im obersten Stock eines gegenüberliegenden Hauses, der im Unterleiberl am offenen Fenster lehnt und seine Zigarette raucht – und es erfüllt mich mit Glück, dass diese Gemeindebaustereotypen auch mitten in der Bobo-Hochburg ihren Platz haben.
Eine Stadt ist die Summe ihrer Charaktere, und zwischen Tag und Nacht hat Wien die ganze Palette im Angebot.
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