Spielen, tanzen, singen: Die neue Musical-Revolution
Hipster-Göttin Florence Welch, stimmgewaltige Songwriterin und ehemalige Lagerfeld-Muse, schreibt aktuell an einem Musical. Eine Auftragsarbeit. Das ewige Indie-Dreamgirl Alanis Morissette feierte vor Kurzem ihren ersten großen Broadway-Erfolg.
Mit „Hamilton“ eroberte ein Hip-Hop-Musical, das sogar schon den schicken Style von „Bridgerton“ vorwegnahm, das Herz von Barack Obama UND die Mainstream-Charts. Dazu kommen aktuell die Sparks, eine der schillerndsten 70s-Bands, die ihren Musical-Film „Annette“ heuer nach Cannes, in die heilige Stadt der Filmfestivals bringen.
Was ist los, sind Musicals plötzlich hip? Ja, es sieht ganz so aus, als ob ausgerechnet die Form des Musiktheaters, an der sich seit den 1980ern die Geister so vehement wie erbittert scheiden, nun auch die notorischsten Naserümpfer wieder an Bord holt. Wie das passieren konnte? Dazu muss man sich kurz die Entstehung des Genres mit allen Höhen und Tiefen in Erinnerung rufen.
Operette mit Blues
Ob das vor 155 Jahren am Broadway in New York aufgeführte Singstück „The Black Crook“ eine komische Oper oder ein Musical war, darüber wird heute noch gestritten. Fest steht, dass damit eine amerikanisch-britische Gegenströmung zur europäischen Operette begann. Am Broadway des frühen 20. Jahrhunderts definierten sich Musical-Comedies und Musical-Dramen etwa dadurch, dass keine Stücke im 3/4-Takt vorkamen. Dafür wurden verstärkt Elemente aus afroamerikanischen Musikstilen wie Ragtime, Blues und Swing eingebaut, was zu durchaus aufregenden Ergebnissen führte. Fest steht auch, dass damals „klassische“ Musik wie schon zu Mozarts Zeiten durchaus Pop-Appeal hatte, und die gängigsten Hits aus Opern, Operetten und Musicals auch in eher bildungsfernen Kneipen gepfiffen wurden.
Children of the Revolution
Dass die Jugend sich und ihre Kultur irgendwann einmal nicht mehr durch überkandidelte Broadway-Shows, Frank-Sinatra-Crooning und Fred Astaire- oder Gene Kelly-Tanzfilme repräsentiert sah, führte in den späten 60ern zu einer drastischen Richtungsänderung im ursprünglich revolutionären, mittlerweile aber doch etwas in die Jahre gekommenen Musical. Was, wir haben den wilden Rock 'n' Roll der 50er vergessen? Nein, denn damals wurde Elvis Presley so schnell mit Ukulele und Blumenkranz nach Hawaii geschickt, dass der in dieser Hinsicht keine bleibenden Spuren hinterließ.
Das taten allerdings zu dieser Zeit populäre Bands wie die Beatles, die sich ein Beispiel an klassischen Komponisten nahmen und Konzeptalben produzierten, die nicht nur eine Aneinanderreihung an Songs waren, sondern eine Geschichte erzählten. „Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band“ (1967) war so ein Teil. Genau wie „Tommy“ (1969) von den Who – und das wurde sechs Jahre später zu einem äußerst erfolgreichen Musicalfilm-Drama.
Tanzen, spielen, singen, wie in den gängigen Broadway-Shows war nicht genug, große Oper wollten die Kids da machen. Größenwahnsinnig? Klar, aber genial auch. So wie ein junger, gänzlich unbekannter Andrew Lloyd Webber. Der brachte 1970 gemeinsam mit Tim Rice ebenfalls ein Konzeptalbum heraus. Thema war die letzte Woche im Leben Jesu. Genau, „Jesus Christ Superstar“ mit Deep Purple-Frontman Ian Gillan in der Hauptrolle und Songwriterin Yvonne Elliman als Maria Magdalena.
Die Platte kletterte auf Nummer 1 der US-Charts – bevor die Produktion auf die Bühne (1971) oder in die Kinos kam (1973). Aus zeitgemäßen Pop-LPs wurden Musicals, und in dieser Atmosphäre entstanden wiederum Musicals wie „Hair“ (1968) und „Godspell“ (1971), aus denen Chart-Hits wurden.
Zurück zum Establishment
Zum Höhepunkt des Hypes kam 1973 in London ein Musical auf die Bühne des Royal Court Theatres, das zwar schließlich zur Mutter aller „frivolen“ Faschingsgschnas-Verkleidungen wurde, aber damals einfach nur camp und super und tatsächlich befreiend anders war, weil es die althergebrachten Vorstellungen patriarchaler Sexualität aber so was von auf den Kopf stellte: Richard O'Briens „Rocky Horror Show“.
In dieser Ära wurde die Grundlage für den Musical-Boom der 1980er bereitet, auch weil Andrew Lloyd Webber das Hitschreiben natürlich nicht verlernt hat und mit „Cats“ bald ein prinzipiell ziemlich subversives Stück produzierte, das sämtliche Rekorde brechen sollte. Die Aufbruchstimmung der Jungen war letztendlich aber dahin. Musicals kehrten zurück zum Establishment: gediegene Abendunterhaltung im Abozyklus.
Zum ersten Mal seit 50 Jahren sind es gerade jetzt wieder verstärkt Protagonisten aus der Pop-Szene, die sich mit Musicals beschäftigen. Und genau das könnte auf eine zweite Erneuerung des Genres hinweisen. Was die Sparks noch drauf haben, kann man ab 6. Juli im Kino sehen.
Und auf den „Großen Gatsby“ von Florence Welch darf man mehr als gespannt sein. Bleibt zu hoffen, dass diese Beispiele noch mehr junge Musiker dazu bringen, den Größenwahn in sich zu entdecken und es mit Puccini & Co. aufzunehmen. Bilderbuch anyone?
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