Über dem Wasserfall
Den Entwurf zeichnete er in wenigen Stunden und hielt sich dabei nicht an die Vorgaben der Bauherren. Die Familie des Pittsburgher Herrenkonfektionshändlers Kaufmann hatte den Architekten Frank Lloyd Wright damit beauftragt, ein Wohnhaus mit Blick auf den Wasserfall zu errichten. Stattdessen setzte er das Haus direkt über den Wasserfall. „Ich möchte, dass Sie mit dem Wasserfall leben, nicht, dass Sie ihn bloß anschauen. Er soll Bestandteil Ihres Lebens werden“, begründete Wright seinen wagemutigen Vorschlag. Für ihn wurde Fallingwater zu seinem Meisterwerk, und bis heute gilt es als einer der größten Triumphe der Architektur.
Ein Paradebeispiel organischer Architektur
Mit seinem Wohnhaus über dem Bear Run, einem acht Kilometer langen Nebenfluss des Youghiogheny River in Pennsylvania, schaffte Wright ein Paradebeispiel seiner Philosophie der organischen Architektur. Ihr oberstes Ziel ist die harmonische Vereinigung von Kunst und Natur. Als Antwort auf die natürlichen Muster und Strukturen der umgebenden Felsformationen stapelte er freitragende Betonwannen übereinander. Verankert wurden sie in einem zentralen Kamin aus Sandsteinblöcken, die aus den Felsen am Grundstück gehauen wurden.
Ich möchte, dass Sie mit dem Wasserfall leben, nicht, dass Sie ihn bloß anschauen. Er soll Bestandteil Ihres Lebens werden
ie Außenflächen des terrassierten Hauses sind annähernd so groß wie die Innenflächen. Damit brachte Wright die Natur ins Hausinnere und die Bewohner nach draußen. Natur, Gebäude und Inneneinrichtung sah er allesamt als zusammenhängende Teile seiner ganzheitlichen Komposition. Ein Prinzip, das sich in jeder Ecke von Fallingwater wiederfindet.
Lebendiger Denkmalschutz
„Der Boden im Haus besteht aus örtlichem Sandstein und ist hochglanzversiegelt, was den Effekt der Steinblöcke unterhalb des Hauses kreiert. Dieser unebene Boden weckt ein Gefühl von nassen Flusssteinen“, beschreibt die Londoner Textildesignerin Eleanor Pritchard ein Detail dieses Prinzips der organischen Einheit. 2019 verbrachte sie eine einwöchige Residency in Fallingwater und entwickelte zwei Webtextilien, exklusiv für die Architekturikone.
Ich liebe es, wie die horizontalen Fensterrahmen an manchen Stellen des Hauses direkt in die Steinwand münden - ohne jeglichen vertikalen Abschluss.
Ich liebe es, wie die horizontalen Fensterrahmen an manchen Stellen des Hauses direkt in die Steinwand münden - ohne jeglichen vertikalen Abschluss.“ Ein Detail, das die renommierte Designerin im Entwurf für die Decke Ffenestr aufgriff. Ffenestr ist die walisische Bezeichnung für Fenster, eine Anspielung auf die Herkunft Wrights und den Ort, an dem die Decke gewebt wurde.
Durch die Einbindung von zeitgenössischen Künstlern und Designern will die Western Pennsylvania Conservancy einen lebendigen Denkmalschutz betreiben, der über die reine Konservierung des Altbestandes hinausgeht.
Falsche statische Berechnungen
Dabei hat die Behörde mit der Sanierung allein alle Hände voll zu tun. Durch falsche Berechnungen des Architekten und eine unzureichende statische Bewehrung gilt das Haus seit Jahrzehnten als einsturzgefährdet. Obwohl sich das Gebäude gute 9 Meter über den Wasserfall erhebt, erwecken die starken horizontalen Linien – zumindest optisch – den sicheren, beschützenden Charakter, den Wright dem Bauwerk geben wollte.
Obwohl es der Architekt verbot, setzte der ausführende Bauunternehmer zusätzliche Stahlbewehrungen ein. Dieser Ungehorsam rettete das Haus zwar vor dem unmittelbaren Einsturz, für eine langfristige Stabilität reichte es dennoch nicht. Fallingwater muss jedes Jahr für mehrere Wochen geschlossen werden, um aufwändige Sanierungsarbeiten durchzuführen.
Architektur-Ikone im Lego-Format
Der Bedeutung des Bauwerks tut dies keinen Abbruch. Schon vor seiner Fertigstellung wurde das Feriendomizil der Familie Kaufmann als neue Ikone der Moderne gefeiert. 1937, als die Bauarbeiten für das Haupthaus abgeschlossen waren, setzte die „Time“ Frank Lloyd Wright samt Entwurfskizze von Fallingwater aufs Cover. Das Museum of Modern Art widmete dem einzigartigen Design des Hauses eine zweijährige Wanderausstellung, gefolgt von einer Werkschau des Architekten.
Heute zählt Fallingwater zu einem der meistfotografierten Architekturmotive der Welt. Seit das Haus 1964 zum Museum wurde, haben es über fünf Millionen Menschen besucht. Gemeinsam mit sieben weiteren Wright-Bauten setzte die UNESCO das Haus 2019 auf die Liste des Weltkulturerbes. Das American Institute of Architects ernannte Fallingwater zum „besten Werk der amerikanischen Architektur aller Zeiten“.
Eine Ehre, die der Spielzeughersteller Lego schließlich auch für den Mainstream legitimierte. In der Serie Lego Architecture erschien 2011 ein 811-teiliges, originalgetreues Modell dieser Ikone der Moderne.
Text: Gertraud Gerst Fotos: Christopher Little, courtesy of Western Pennsylvania Conservancy, Lego
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