Kiruna: Eine Stadt zieht um

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Die subarktische Bergbaustadt Kiruna muss übersiedeln. Bis 2040 soll die ganze Stadt komplett um fünf Kilometer nach Osten verlegt werden. Dabei soll sich Kiruna zu einer lebendigen, nachhaltigen und vielfältigen Stadt wandeln.

Es ist eine der größten urbanen Transformationen unserer Zeit: Kiruna, die nördlichste Stadt in Schweden, muss übersiedeln. Denn der Eisenerzabbau an der Westgrenze der Stadt führt zu tektonischen Verschiebungen. Und die unter der Stadt liegenden Vorkommen sollen weiter abgebaut werden. Das Stadtzentrum wird daher sprichwörtlich nach und nach untergraben.

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Langfrist-Projekt

Kiruna entstand als Siedlung für das gleichnamige Eisenerzbergwerk in der Provinz Norrbottens län. Bis 2040 soll die ganze subarktische Stadt komplett um fünf Kilometer nach Osten verlegt werden. Aber wie bewegt man eine ganze Stadt? Und bewahrt dennoch dabei ihren Charakter und ihr kollektives Gedächtnis?

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Die Bürgerinnen und Bürger haben Erwartungen aber auch Sorgen.
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Deshalb wird die Bevölkerung laufend eingebunden.

White Arkitekter gemeinsam mit Ghilardi + Hellsten Arkitekter gewannen 2013 einen internationalen Wettbewerb für diese faszinierende wie gleichermaßen heikle Fragestellung. Dem Team gehören Architekten, Landschaftsarchitekten, Nachhaltigkeitsspezialisten und Sozialanthropologen an.

Alles neu und nachhaltig

Der Masterplan von White sieht vor, aus Kiruna eine nachhaltige Modellstadt mit einer vielfältigen Wirtschaft und Nutzung zu machen. Letztendlich soll sie weniger abhängig von der globalen Nachfrage nach Eisenerz werden.

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Das neue Stadtzentrum gemäß Masterplan.
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Das neue, von Henning Larsen Architekten entworfene Rathaus wurde schon errichtet.

Arktisches Kraftwerk

Es ist das größte Eisenerzbergwerk der Welt und wird vom staatlichen Unternehmen LKAB betrieben. Den Angaben zufolge wird alle 24 Stunden ein Äquivalent von sechs Eiffeltürmen an hochgradigem Erz abgebaut. Zwei Drittel der Bevölkerung sind auf das Bergwerk als Einnahmequelle angewiesen, in letzter Zeit holt jedoch der Tourismus auf.

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Das alte Rathaus mit dem Uhrturm von Kiruna.

Für die beiden Architekturbüros stellt die Verlagerung der in der an Eisenerz reichen Region Malmfälten in Schweden gelegenen Stadt nach Osten eine historisch beispiellose Gelegenheit dar: Kiruna soll sich zu einer lebendigen, nachhaltigen und vielfältigen städtischen Drehscheibe für heutige und zukünftige Generationen mausern.

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Wahrzeichen von Kiruna: der Uhrturm.

Kiruna hat sich zum Ziel gesetzt, eine innovative und energieeffiziente Stadt zu werden – durch systematische Verdichtung, Wiederverwendung von Materialien und Nutzung erneuerbarer Energiequellen. Die Stadt liegt nördlich des Polarkreises, das bedeutet, dass die Mitternachtssonne im Sommer 50 Tage ununterbrochen scheint. Dafür herrscht im Winter 20 Tage lang die Polarnacht.

Die Übersiedlung bringt auch Vorteile: Den effizienten Einsatz von Ressourcen durch Nutzung der enormen Abwärme, die durch die Bergbautätigkeit entstehen, durch Installation von Windturbinen zur Energieerzeugung und Implementierung einer Recycling-Infrastruktur zur Reduzierung von Fracht und Abfall.

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Das neue Rathaus besteht aus einem Innen- und Außen-Baukörper.
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Der metallisch wirkende Innenbau nimmt Bezug auf die Historie der Erzabbau-Stadt.

Der konkrete Plan

Nach einer gründlichen Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Rahmenbedingungen, sowohl der natürlichen als auch der vom Menschen geschaffenen Umwelt, wurde alles kategorisiert: Gebäude, Objekte, Kunststätten etc. – alles, was bewegt werden kann. Verschiedene Konzepte zur Integration als Schichten in der neuen Stadt wurden vorgeschlagen. Die arktische Identität, Kulturen, Jahreszeiten und Aktivitäten sollen treibende Kräfte in diesem Prozess sein, geht es nach Ghilardi Hellsten.

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„Krystallen” von inne.
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Hochmodernes Rathaus „The Crystal” Kiruna Town Hall.

Der Umzug vollzieht sich schrittweise. Jeder Schritt nach Osten wird durch ein öffentliches Projekt implementiert. So wird nach und nach eine Reihe von Orten geschaffen, die das Alte mit dem Neuen verbinden. Orte der Begegnung, Gastronomie, Freizeit- und kulturelle Einrichtungen gab es früher nicht in Kiruna. Jetzt hat man die Gelegenheit, Derartiges „einzubauen”.

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Selbst Bäume werden übersiedelt.
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Recycling: Vieles wird wieder verwendet z.B. die Ziegelsteine der alten Bahnstation.

Die Vorstädte werden Teil des neuen Stadtzentrums.

Krister Lindstedt, leitender Architekt bei White Arkitekter

Dieses „Rückgrat der öffentlichen Räume” ist das Rückgrat der Entwicklung, während die Stadt durch ihre sich verändernde Morphologie intakt bleibt, heißt es bei den Architekten. Schließlich entwickle sich dieses Rückgrat zu einem Netz von Straßen, öffentlichen Räumen und Gebäuden.

Die rund 20.000 Bürger Kirunas nehmen eine herausragende Rolle in der Strategie des Masterplans ein. Denn naturgemäß steht die Bevölkerung den Maßnahmen ambivalent gegenüber: Die mitunter freudigen Erwartungen vermischen sich mit Besorgnis.

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Die berühmten Bläckhorn-Häuser von Gustav Wichmann werden versetzt ...
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... was angeblich gar nicht so eine Hexerei ist.

Neu-Kiruna

Auf dem neuen Hauptplatz befindet sich der historische Uhrturm. Eine Art „Reisezentrum” soll die Verbindungen zwischen Alt und Neu erleichtern. Direkt neben dem Uhrturm steht bereits jetzt schon das neue, vom renommierten Architekturbüro Henning Larsen entworfene neue Rathaus und Gemeindezentrum, Krystallen („The Crystal”).

Das Rathaus besteht aus zwei Baukörpern. Das innere Gebäude zeichnet sich durch ein goldenes, kristallines Herz aus, das von den bedeutenden Eisenerzvorkommen der Gegend inspiriert ist. Als schwebende Kugel umgibt das äußere Gebäude mit seiner glatten, runden Glas- und Natursteinfassade den Kristall und optimiert den Einfall des Tageslichts um 17 Prozent im Vergleich zu einem quadratischen Bau.

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Strahlend weiß

Neben Bürgerservices, Büros, Sitzungsräumen und Ratssaal beherbergt das Gebäude auch Ausstellungsräumlichkeiten für lokale samische Kunst. Das neue Rathaus nimmt durch die Einbeziehung des Glockenturms sowie ausgewählter Materialien und Bauteile Bezug auf die historische Halle.

Dank der kreisförmigen Außenseite in strahlendem Weiß – sichtbares Wahrzeichen auch für eine widerstandsfähige Gemeinschaft – können sich die starken Schneeverwehungen des Winters nicht an der Fassade festsetzen. Die runde Form symbolisiert Einheit und Solidarität: Zentral im Herzen des neuen Kiruna gelegen, fördert das Gebäude den gleichberechtigten Zugang für alle Bürger.

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Ebenfalls auf dem neuen Hauptplatz sind die neue Bibliothek sowie ein Schwimmbad vorgesehen. Und bis 2021 wird die Kirche sorgfältig abgebaut und am neuen Standort wieder aufgebaut sein.

Die Seele wandert mit

Von der Mittelachse aus werden die Stadtviertel wie „Finger” in die umgebende Landschaft zeigen, so dass die Bewohner nie mehr als drei Häuserblocks von der Natur entfernt sind. Der entstehende Stadtgürtel verbindet das Zentrum von Neu-Kiruna nicht nur mit den nahe gelegenen Siedlungen sondern auch mit dem Flughafen und dem Bergwerk.

Die Wiederverwendung von Materialien aus abgerissenen Gebäuden und die unveränderte Verlagerung kulturell bedeutender Architektur wird dazu beitragen, dass das Wesen und die Seele des ehemaligen Kiruna auch nach Osten wandern kann, so die Architektenteams. Zusätzlich zu den 3.000 Häusern, die umgesiedelt werden sollen, werden neue Wohnanlagen errichtet, da die Bevölkerung Kirunas wächst.

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Diagramm der „verschobenen” Stadt Kiruna

Aktuelle Ausstellung

Vor kurzem, im Juli 2020, wurde in Stockholm, im ArkDes (Swedish Centre for Architecture and Design) eine Ausstellung eröffnet, die den Umzug von Kiruna dokumentiert. „Kiruna Forever” zeigt die Stadt, wie sie sich in ständiger Veränderung befindet, aber dennoch intakt bleibt, heißt es.

„Das Modell zeigt unter anderem die erste Etappe des Hauptplatzes und wie sich die Straßen ausdehnen und die Gebiete erfassen, die bereits als Vororte von Kiruna existieren. Die Vorstädte werden Teil des neuen Stadtzentrums”, erklärt Krister Lindstedt, leitender Architekt bei White Arkitekter. In der Ausstellung wird auch ein Film gezeigt, bei dem man ein Gespräch der Architekten untereinander über den Auftrag zur Gestaltung des neuen Kiruna mit verfolgen kann.

Text: Linda BenköVisualisierungen, Fotos: White Arkitekter, Ghilardi + Hellsten, Tegmark, Sam Keshevarzben

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