Industriebrache hat Zukunft!
Während der Online-Handel neue, riesige Zentrallager baut, verwaisen viele kleinere Industrieanlagen. Was in den 1970er Jahren modern war, ist nicht mehr attraktiv, weil alt und meist abseits der Stadt gelegen. Auch Fabriken, weil sich das, was dort einst produziert wurde, in anderen Ländern billiger fertigen lässt. Zugleich werden Bauflächen sowie Ressourcen knapp und Bodenversiegelung zum Problem. Was also tun mit Industriebrache, deren kostspieliger Abbruch die Umwelt belastet? Das Wiener Architekturbüro smartvoll propagiert eine smarte Lösung: „Adaptive Reuse“ – also Adaption für neue Nutzung. Denn so lassen sich „aus Räumen für Paletten“ und verlassenen Fabriken „Räume für Menschen“ machen.
Adaption statt Abrissbirne
Statt mit der Abrissbirne Bauschutt aufzuhäufen, wollen die Architekten bestehende Substanz weitgehend erhalten und in „Möglichkeitsräume“ verwandeln. Wie das klappen kann und welche Vorteile es bringt, veranschaulicht das smartvoll-Team anhand von Zahlen und Fakten. Und anhand mehrer Projekte. Allen voran mit dem „Handelszentrum 16“ in Bergheim, Salzburg: Wo „Universal Versand“ auf 50.000 Quadratmetern Grundfläche bis vor zehn Jahren Pakete verpackte und verschickte, entsteht ein neuer, lebendiger Ort.
Diese Industriebrache nicht abzureißen, habe allein 0,5 Prozent des jährlichen österreichischen Bau- und Abbruchabfalls eingespart: „Wir machen aus dem dunklen Bunker für Paletten einen lebendigen Ort für Menschen“. Die extreme Höhe und Weite der industriellen Lagerhalle bot die Möglichkeit, im Inneren eine vielseitige neue Welt erstehen zu lassen.
Wir machen aus dunklen Bunkern für Paletten lebendige Orte für Menschen
Drei Bäume, umfasst von gläsernen Atrien, verbinden Boden und freien Himmel. Auf drei Ebenen erheben sich verschiedene Plattformen – gesondert von offenem Raum, in dem sich Blicke horizontal und vertikal kreuzen. Das Ziel, die Industriebrache in ein flexibel nutzbares Projekt zu verwandeln, wird wohldurchdacht erreicht.
Nicht nur Treppen, Podien, Zonierungen und Möblierungen machen die angestrebte Vielfalt „live“ erlebbar. Gastronomie, Sport, Event, Werkstatt, Ausstellung, Studio und Shops durchmischen die Bürozonen. Zudem entspricht das dreidimensionale Gesamtbild, das dadurch entsteht, perfekt dem „New Work“-Trend mit seinen unverzichtbaren „Co-Working“-Bereichen.
Industriebrache wird Wunderwelt
Die Vielgestaltigkeit der räumlichen Elemente macht die neu adaptierte Industrieanlage zum famos anpassungsfähigen Komplex. Büros werden nicht durch Stockwerke getrennt und gestapelt, sondern von Freiräumen dreidimensional verknüpft. Sollen „tote“ Kuben zu vitalen Zentren werden, setzen die smartvoll-Architekten auf erlebbare Diversität: „Kommunikations-Kaskade, grüne Insel, Terrasse, Bistro, Atrium, Kaffee-Tankstelle und Raum für Schönes” sorgen für die gewünschte Atmosphäre, Kultur und Identität des neuen Orts.
Dasneue „Handelszentrum 16“ dient Firmen mit Produktion und Assembling-Schwerpunkt. Ergänzt durch Lager-, Ausstellungs- und Flächen für Forschung, Entwicklung, Verwaltung und mehr. Das Bauen im Bestand und die damit verbundene nachhaltige Nutzung reduzieren die Belastungen für Umwelt und Anrainer erheblich.
Die bestehenden Hallen werden durch innere Verdichtung mietergerecht umgebaut und adaptiert. Und die Projektwebsite verspricht: „Im derzeitigen Baufortschritt können wir den späteren Nutzern noch große Flexibilität im Zusammenhang mit der Raumgliederung bieten“.
Ein Neustart, der die Umwelt schont
Auf jeden Fall beeindruckend sind die Angaben zum Effekt der Nachnutzung dieser Industriebrache bei Salzburg, die jetzt modernes Handelszentrum wird: Der reine Betonabbruch hätte ein Volumen von 25.500 Kubikmetern gehabt, was in etwa 4.780 LKW-Ladungen entspricht (normale 8 m³ Mulde). Um diese Menge zur nächst gelegenen Recyclinganlage und retour (nur 18 Kilometer hin und zurück) zu schaffen, müsste ein Lkw eine Strecke zurücklegen, die fast jener einer zweimaligen Tour um den Äquator entspricht.
Der Abriss der bestehenden Industriebrache hätte ein Gewicht von 63.750 Tonnen umfasst. Dies wiederum entspricht ungefähr 350 Flugzeugen des Typs Boeing 747. Und eben besagten 0,5 Prozent des gesamten österreichischen Bau-und Abbruchabfalls im Jahr 2017.
Reanimieren statt mehr „betonieren“
Doch damit nicht genug: Hätte man in gleicher Größe neu gebaut, betrüge die neu versiegelte Fläche zirka 18.850 Quadratmeter. Wäre hier also keine bestehende Industriebrache reanimiert worden, hätte man für das „Handelszentrum 16“ immerhin 2,6 Fußballfelder neu verbauen müssen. Und damit mehr als ein Drittel der in Österreich täglich versiegelten Fläche.
Zahlen wie diese machen das „Handelszentrum 16“ zu einem schönen Beispiel für das, was die innovativen Wiener Architekten so engagiert betreiben. Seit gut sieben Jahren setzen sie sich intensiv mit dem Thema „Adaptive Reuse“ auseinander: „Für uns bedeutet es die Wiederbelebung des Leerstehenden, die Zweckfindung fürs nun Zwecklose. Es bedeutet aber auch, statt Müll zu produzieren und Boden zu verbrauchen, einmalige Projekte in besonderer Lage zu entwickeln.“
Für uns bedeutet Adaptive Reuse die Wiederbelebung des Leerstehenden, die Zweckfindung fürs nun Zwecklose
Das smartvoll-Team hat umfangreiche Recherchen dazu angestellt. Es lohnt sich, deren Ergebnis genau zu betrachten. Denn ungenutzt leerstehende Industriegebäude findet man nahezu überall. Und mit dem Ansatz der Wiener Architekten ließe sich damit viel gewinnen.
Meist dämmern solch verwaiste Anlagen in ländlichem Umfeld vor sich hin. Mitten in schöner Landschaft, unschön und unverhältnismäßig groß. Was all diese Relikte gemeinsam haben, fasst smartvoll so zusammen: „Ihr Abbruch erzeugt unglaubliche Mengen Abfall – rund 11,69 Millionen Tonnen“.
Abbruchtonnen, in Flugzeugen gemessen
Gewaltiges Gewicht, das sich illustrieren lässt, indem man diesmal gedanklich 63.705 Boeing 747 „Jumbo Jets“ auf die imaginäre Waage stapelt. So viel kommt in Österreich pro Jahr zusammen (Wert: 2017). 54,9 Prozent des gesamten Abfalls ist Aushubmaterial (inklusive Tiefbau). 18,2 Prozent der Gesamtmenge stammen aus Bau und Abbruch. Umgerechnet bedeutete dies im Jahr 2017 stolze 1.330 Kilo Bau- und Abbruchabfall pro Person.
In Österreich häuften sich 2017 insgesamt 64,19 Millionen Tonnen Abfälle an. 90 Prozent davon entstanden durch den Abbruch von Gebäuden. Die Menge dieser Abfälle stieg von 2009 bis 2017 um 70 Prozent. 7,18 Millionen Tonnen entfielen dabei allein auf Bauschutt und Betonabbruch.
Zum Vergleich: Nur 6,7 Prozent gingen auf Hausmüll zurück – also auf das, was wir Tag für Tag in Mist-Sack und -Tonne stopfen. Und darauf, diese privat verursachten „Berge“ zu verkleinern, achtet inzwischen immerhin fast jeder.
Umbau spart Schutt und Geld
Müllberge, die durch Gebäudeabbrüche entstehen, sind dem Einzelnen weit weniger bewusst. Doch ihr Volumen hat’s, wie oben erwähnt, in sich. Und laut penibler smartvoll-Recherchen stieg es an, statt abzunehmen. Der Aufbereitung wurden 2017 gut 85 Prozent der Bau- und Abbruchabfälle zugeführt. Immerhin 1,2 Millionen Tonnen landeten auf Deponien. Allerdings: Deponie-Flächen werden immer knapper, die Entsorgung also künftig teurer.
Dazu kommt, dass die Qualität des Baustoffs Beton in seinem Lebenszyklus abnimmt, die Emissionen jedoch steigen. Schon bei der Herstellung wird viel CO2 freigesetzt. Auch der Recycling-Prozess kann CO2-intensiv sein. Vor allem durch lange Transportwege zwischen Abbruch und Aufbereitung. Weil Recycling mineralischer Baustoffe nur begrenzt möglich ist, findet meist Downcycling statt. Rückverwandlung von Beton in seine ursprünglichen Primärstoffe ist nicht machbar. Am Ende des Prozesses stehen oft weniger qualitative Sekundärrohstoffe, die als Zuschlag für neuen Beton, Schüttung und im Straßenbau verwendet oder auf einer Deponie landen.
Im Fokus: Klimaschutz
Bedenkt man, dass Beton aus ungeheuer langsam entstehenden mineralischen Primärstoffen besteht, wird das „Adaptive Reuse“-Konzept noch interessanter. Aus menschlicher Zeitperspektive betrachtet, sind die benötigten Rohmaterialien endliche Ressourcen.
Industriebrache als Ressource
Bausand gilt inzwischen – nach Wasser – sogar als am stärksten verbrauchter Rohstoff der Welt. Obendrein schadet die CO2-intensive Produktion von Zement dem Klima. Es macht also Sinn, bestehenden Beton als urbane Ressource zu erhalten, statt leichtfertig abzureißen und komplett neu zu bauen.
Auch was Flächenversiegelung betrifft verspricht die Strategie des smartvoll-Teams ein großes Plus in Sachen Umweltschutz. Dass Lösungen hier dringend nötig sind, unterstreichen die dazu erhobenen Zahlen: Österreich hatte sich schon 2002 das Ziel gesetzt, den Bodenverbrauch bis 2012 auf 2,5 Hektar pro Tag zu verringern. Das entspräche in etwa neun Quadratkilometern pro Jahr. Geklappt hat’s freilich nicht: Der tatsächliche Wert war 2012 fast zehnmal so hoch.
Gebremster Bodenverbrauch
Das aktuelle Ziel: Reduktion auf jährlich neun Quadratkilometer – bis 2030. Auf EU-Ebene gilt die Vereinbarung, bis 2050 keinen neuen Boden mehr zu verbrauchen. Dazu heißt es in der Case Study der smartvoll-Architekten: „Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt“. Adaption von Industriebrache soll helfen, ein vorzeitiges Ableben dieser Hoffnung hintanzuhalten.
Das „Handelszentrum 16“ ist nicht das einzige Umnutzungsprojekt, das das Büro smartvoll bereits entwickelt hat. Seit 2015 wurden in Kooperation mit regionalen Akteuren an vier Standorten in und um Salzburg „Adaptive Reuse“-Projekte umgesetzt. Dazu zählen auch die Panzerhalle der ehemaligen Struberkaserne, die Knoll Gründe Grödig und der Campus Anif, wo Sony Österreich bis 2012 CDs herstellte.
Davon, dass Industriebrache in vielfältig nutzbare und zukunftsfitte Anlagen verwandelt werden kann, sind auch andere Architekten überzeugt. So läuft etwa in Leiden derzeit die viel beachtete Revitalisierung der legendären „Meelfabriek“ nach Plänen von Studio Akkerhuis. Und die„Russische Biennale für junge Architekten“ prämierte im Vorjahr Vorschläge zur Wiederbelebung zweier verwaister Standorte in Kasan.
Ideen für die sinnvolle Nutzung ehemaliger Fabriken und Lagerhallen sind gefragt. Schließlich hat deren Transformation – neben großen Vorteilen für die Umwelt – auch entscheidenden Einfluss aufs Erscheinungsbild der Umgebung und die Lebensqualität im Umfeld solch stillgelegter Bauten.
Text: Elisabeth Schneyder Bilder: smartvoll Architects
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