Das Rotterdamer Reisfeld
Wer schon einmal in Bali war hat bestimmt die phänomenalen Reisterrassen im Hinterland von Ubud bestaunt, dem kulturellen und spirituellen Zentrum der Insel. In allen Grüntönen leuchtend und in allen Größen werden die Reisfelder in mühsamer Handarbeit terrassenförmig an den Hängen angelegt. Die Balinesen nennen sie auch „Himmelstreppen zu den Göttern”. Auf indonesisch heißen die Reisfelder Sawa.
Sawa: Abgetrepptes Mega-Öko-Wohnhaus
Diese Bezeichnung haben sich die Bauherren Nice Developers und ERA Contour ausgeliehen: für das Mega-Öko-Wohnbauprojekt in Rotterdam. Im Herzen des Lloyd-Quartiers entsteht soeben ein 50 Meter hohes, abgetrepptes Gebäude mit rund 100 Wohnungen nach einem Entwurf von Mei architects and planners.
Das Sawa wird aus Brettsperrholz (Cross Laminated Timber) errichtet. Es soll, so die Planer und Errichter, viel rascher als ein Betonbau fertig sein, mehr Wohnkomfort bieten und zudem CO2 binden.
Brettsperrholz (auch Kreuzlagenholz, kurz KLH oder englisch CLT für cross laminated timber) ist eine Massivholzplatte. Sie wird dadurch hergestellt, dass Bretter oder Latten in mehreren Schichten kreuzweise verleimt werden. Die Stärke kann Experten zufolge zwischen 50 und 297 Millimetern betragen, die Breite maximal 4,8 und die Länge maximal 20 Meter.
Neben der Verwendung als tragender Teil gelangt CLT auch für Fassaden- und Innenverkleidungen zum Einsatz. Fenster- und Türöffnungen können millimetergenau ausgeschnitten werden. Die Vorteile liegen in der schnellen, sicheren und trockenen Montage. Die bauphysikalischen Eigenschaften gewährleisten gute Raumluftfeuchte, Wärme- und Schalldämmung, Brandsicherheit, Zug- und Druckfestigkeit und damit Lasttragkraft und Erdbebensicherheit.
Deckenkonstruktion ohne Betonzugabe
Bauherren und Architekten wollen die Stadt Rotterdam beim Erreichen der Klimaziele unterstützen (auch Amsterdam hat diesbezüglich ehrgeizige Ziele). Daher besteht die Haupttragkonstruktion tatsächlich fast vollständig aus CLT (den Angaben zufolge zu 90,97%). Die Baumaterialien seien gemäß den Prinzipien „Urban Mining” und Zirkularität (Recyclingfähigkeit) in der Zukunft wiederverwendbar.
Die für Sawa verwendeten Bäume stammen Mei architects zufolge aus nachhaltiger Forstwirtschaft. „Für jeden Baum, der gefällt wird, werden drei neue gepflanzt”, heißt es. Die übrigen Materialien seien so weit wie möglich biobasiert und mit einem Materialpass versehen. Es gibt Querlüftung und temperatur- sowie CO2-gesteuerte Lüftungsventile in der Fassade.
Begegnungsräume
Und, da es sich auch optisch gut macht, ist so viel Holz wie möglich in den Häusern und auf den Galerien und Balkonen sichtbar. Nur da, wo es kaum ins Gewicht fällt (Abstellraum, WC, Bad) sind die Wände mit Gips verkleidet.
Der „Stufenschnitt” des Sawa verbindet das Objekt mit den umliegenden Gebäuden und nimmt Rücksicht auf bestehende Sichtachsen. Auf der Westseite bildet sich so ein offener Platz auf dem Grundstück. Im ersten Stock finden die Bewohner wie auf einem Schiff ein großes Gemeinschaftsdeck vor. Die Form des Baukörpers ermöglicht weitgehend variable Wohnungen.
Offene Galerie und Sharing-Modelle
Die rund 100 Einheiten haben eine Fläche zwischen 50 und 100 oder mehr Quadratmetern. Laut Medienberichten soll gut die Hälfte als günstige Mietapartments für Menschen mit systemerhaltenden Berufen (Polizisten, Lehrer, Krankenschwestern etc.) gewidmet sein.
Eine offene Galerie soll den Kontakt zwischen den Bewohnern untereinander fördern. Bei Immobilienmaklern eher unbeliebt, habe sich der Ansatz laut Architekturbüro bereits in vielen anderen Projekten wie beispielsweise dem Wohnhaus Fenix I bewährt.
„Sharing” wird groß geschrieben: das betrifft Mobilität wie Werkzeuge und Gemüsegarten. Die Photovoltaik-Paneele auf den Dächern und die Solarkrone am höchsten Punkt liefern den Strom für die gemeinsam genutzten Autos, Motorroller und Fahrräder.
Sawa: Zwei Mal Sieger
Sawa, das höchste Holzgebäude der Niederlande, hat bereits zwei Auszeichnungen erhalten: Einerseits den ARC20 Innovation Award: Gelobt wurden vor allem das Biodach sowie der koordinierte Grünplan für die Terrassen und die etlichen „Tierhäuser” – was in Europa einzigartig sei.
Die Initiative von „De Architect” mit diversen Partnern hat mittlerweile einen festen Platz in der niederländischen Architekturlandschaft. Awards gibt es in den Kategorien Architektur, Städtebau, Interieur, Möbel, Detail, Innovation, Nachwuchs und Werk. Andererseits hat das Sawa auch den ersten Platz bei den Green GOOD DESIGN Awards 2021 eingeheimst.
Sawa repräsentiert die Zukunft. Das Projekt ist aufgrund der Dimension als Holzbau vielversprechend. Es wird das innovativste und höchste Holzgebäude in den Niederlanden sein. Es ist ein neues Konzept, intelligent und ästhetisch, energiesparend und möglicherweise der Wendepunkt in der Holzbau-Revolution.
Das Lloydkwartier, wie es auf niederländisch heißt, ist ein sehr dynamisches Viertel von Rotterdam. Früher legten hier laufend Passagierschiffe an und ab – mit Ein- und Auswanderern an Bord. Der Lloyd-Pier verdankt seinen Namen der Reederei Rotterdamsche Lloyd, die früher eine Linie direkt nach Batavia (das frühere Djakarta, die Hauptstadt Indonesiens) hatte.
Kreativquartier
Seitdem hat sich das Lloydkwartier in ein modernes Wohn- und Büroviertel verwandelt – mit starkem Schwerpunkt Designagenturen, Werbefirmen, Architekten, Fotografen und Unternehmen mit audiovisuellen Geschäftsfeldern.
Wer nicht der Kreativzunft angehört, schlendert nicht minder gern an den historischen Lagerhäusern entlang, an den alten Hafenmonumenten vorbei und durch die modernen Gebäude. An den Piers kann man immer noch Schiffe bestaunen und sich die Haare vom Wind zerzausen lassen. Und es befindet sich das Schifffahrts- und Transport-College (STC) hier, das von den Einheimischen liebevoll „das Periskop” genannt wird.
Text: Linda Benkö Fotos/Visualisierungen: Max Kukurudziak, Door I Ruud, MEI, WAX, Ossip Large
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