Bildung: Jedes Kind hat Potenzial
Die damals 11-jährige Sara hatte das Gefühl, eine Versagerin zu sein. Ihr Mathelehrer sagte, Zahlen liegen ihr einfach nicht. Die Deutschnote ist nur ein Befriedigend, ihre Biologielehrerin rät ihr, dass sie bei der nächsten Testvorbereitung besser Nachhilfe nimmt, wenn sie denn bestehen möchte. Viele hätten Sara deshalb keine erfolgreiche Karriere prognostiziert.
Doch was ihr Umfeld und das Schulsystem übersahen: Saras außergewöhnlichen Pioniergeist. Heute berät sie naturwissenschaftliche Start-ups in der Ideenfindung und hat weltweit renommierten Projekten zum Erfolg geholfen. Doch wieso hat das in der Schule niemand erkannt – geschweige denn gefördert? Es müsste die vordringliche Aufgabe der Schule und auch der Kindergärten sein, die Potenziale der Kinder zu entdecken und zu fördern, anstatt sie in die Frustration zu treiben. Und da geht es nicht nur um Personen mit potenziell „großer, famoser Karriere“.
Darauf macht Maximilian Schulyok aufmerksam – er ist Geschäftsführer des öbv-Verlags, der heuer seinen 250. Geburtstag feiert und zu diesem Anlass unter anderem einen Podcast gelauncht hat.
Wir müssen die Weichen für unsere Kinder stellen, ohne dass wir wissen, welche Fähigkeiten sie einmal brauchen werden und welche Berufe sich noch entwickeln werden.
Zum einen ist da die immer schneller voranschreitende Digitalisierung, zum anderen die vielen Krisen, die gleichzeitig zu bewältigen sind. Um diese Probleme anzupacken, braucht es viele verschiedene Talente, wie Genetiker Markus Hengstschläger im Podcast betont,
Jeder Mensch hat ein Talent, jeder ist Elite. Doch leider wird der Begriff Talent in Österreich oft diskriminierend verwendet. Ich verstehe nicht, dass jemand der gut Fußballspielen kann, ein größeres Talent sein soll, als jemand der andere sein Leben lang hingebungsvoll pflegt.
Bleistift und Papier
Beides seien Begabungen, beide sollten gefördert werden. Die Biologie spiele bei der Frage, welches Talent man hat, nur eine untergeordnete Rolle. Viel entscheidender sei es, diese Potenziale zu fördern.
Die Genetik ist Papier und Bleistift, die Geschichte schreibt aber jeder selbst
Diese Potenziale zu entfalten sei die Grundessenz der Bildung, ist Maximilian Schulyok überzeugt. „Eine schöne Aufgabe, die man in der öffentlichen Wahrnehmung ernster nehmen sollte. Denn Bildung ist das größte Kapital, das unser Land hat – wenn wir da nicht langsam die Kurve bekommen und nicht die Potenziale eines jeden Kindes erkennen und fördern, werden wir à la longue ins Hintertreffen kommen.“
Auch die Kinder profitieren davon. Denn sie erhalten so die Möglichkeit, ein glückerfülltes Leben zu führen – nicht nur beruflich, sondern auch privat: „Da darf man gerade jetzt nicht nachlassen – auch wenn derzeit in der Schule logischerweise der Fokus darauf liegt, Bildungsrückstände aufzuholen.“
Mehr als gedacht
Das Potenzial, Außergewöhnliches zu leisten, haben weitaus mehr Kinder als gedacht, wie eine Studie zeigt: In jedem Klassenzimmer sitzen drei bis vier Kinder, die das Potenzial zu außergewöhnlichen Leistungen haben. Das heißt: 200.000 österreichische Schülerinnen und Schüler sind in Teilbereichen unterfordert und könnten sich über das, was der Lehrplan verlangt, weiterentwickeln. „Darüber sollte man sich Gedanken machen. Ich bezweifle jedoch, dass die ,klassische Hochbegabung’ ein sinnvoller Maßstab für Potenzial ist“, meint Schulyok.
Eine Begabung wird in Zukunft besonders wichtig, meint Hengstschläger: die Lösungsbegabung. Heißt: „Lösungen für Probleme zu finden, für die es noch keine Lösungen gibt. Das wird angesichts der Herausforderungen und Veränderungen, vor denen wir stehen, das wichtigste Talent sein. Darin ist nicht jeder gleich begabt – doch wie bei allen Begabungen, kann man auch hier nur durch Üben, Üben, Üben zum Meister werden“.
Doch Lösungskompetenz sei leider das Talent, das in der Schule am wenigsten gefördert wird: „Kinder dabei zu unterstützen, dass sie selbst Lösungen entwickeln, diese testen und auch umsetzen – da tun wir zu wenig.“
Geht es darum, Talente zu entdecken und zu fördern, sind die Lehrpersonen zentral – davon ist Maximilian Schulyok überzeugt: „Ein Kind kann seine Talente nur dann entwickeln, wenn es Zeit und den Raum dafür bekommt. Derzeit ist die Lehrkraft zu oft mit Verwaltungsaufgaben und anderem beschäftigt, was nicht ihre ureigentliche Aufgabe ist.“
Sie freizuspielen – da können Verlage unterstützen, „indem wir gute Bildungsinhalte bieten, die es ermöglichen zu differenzieren, indem etwa ein Schüler ein Beispiel erhält, das leichter zu lösen ist und ein anderer eine anspruchsvollere Aufgabe bekommt. Hier bietet die Digitalisierung der Unterrichtsmedien viele Möglichkeiten – die App Studily erkennt etwa ganz gut, wo ein Kind steht und welche Aufgabe für sein Leistungsniveau die beste ist.“
Unter- und überfordert
Auch die Bildungspsychologie hilft hier: „Wenn ich etwas lerne und bei 80 Prozent meiner Leistungsfähigkeit bin, lerne ich am erfolgreichsten – bin ich darüber, werde ich überfordert, bin ich darunter werde ich unterfordert. Diese 80 Prozent zu erreichen, ist in der digitalen Welt einfacher als in der analogen.“
Überhaupt könne künstliche Intelligenz sehr gut dabei helfen, die Potenziale zu erkennen und zu entwickeln. Aber ohne Lehrpersonen geht es nicht: „Wir müssen bei der Fort- und Weiterbildung der Lehrkräfte ansetzen. Essenziell ist es auch, den Lehrberuf zu stärken. Doch leider wollen immer weniger Menschen diesen Beruf ergreifen“, stellt Schulyok fest und fordert. „Wir müssen gemeinsam darüber nachdenken, wie wir als Gesellschaft mit Menschen umgehen, die den wichtigsten Job haben. Mit dem Lehrer-Bashing muss Schluss sein.“
Podcast: Bildungsimpulse zum Hören
Der Österreichische Bundesverlag öbv feiert heuer sein 250-jähriges Bestehen. Zum Jubiläum hat der Verlag das Jahr der Bildung ausgerufen. Zum Start wurde der Podcast #klassezwanzigzukunft gelauncht, in dem Geschäftsführer Maximilian Schulyok regelmäßig mit Persönlichkeiten zu den Themen Bildung und Potenzialentfaltung spricht.
Keynote-Speaker Ali Mahlodji kommt in der ersten Folge zu Wort: „Wenn man sich das österreichische Bildungsgesetz durchliest, ist das ein Liebesgedicht an unsere Kinder. Da steht nichts von Frontalunterricht. Wir müssen lernen, dieses Gedicht neu zu denken und anzupassen.“
Sag’s Multi-Gewinnerin und Wiener Landesschulsprecherin Esther Györi: „Wir müssen als Gesellschaft daran arbeiten, dass jede Sprache gleichwertig ist und als Gewinn für die Gesellschaft gesehen wird.“ Bildungspsychologin Christiane Spiel: „Ein Investment im Bildungsbereich ist gleichzeitig ein Investment in allen anderen Politikfeldern.“
Kabarettist und Lehrer Andreas Ferner: „Mit Humor lernt man ja viel besser. Das merkt man auch bei den Schülern, wenn da ein Schmäh drinnen ist, dass sie das dann viel besser auffassen können.“
Erziehungswissenschafter Klaus Ziehrer: „Bildung umfasst aber mehr, dazu gehören auch Kunst, Musik und Sport für mich die drei wichtigsten Fächer überhaupt.“
Auch Genetiker Markus Hengstschläger kommt zu Wort (s.o.).
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