150-Jahre-Jubiläum: Es lebe der Zentralfriedhof
Früher wurde mehr gestorben.
Jedenfalls finden auf dem Wiener Zentralfriedhof heute deutlich weniger Begräbnisse statt. Einst waren es 50 am Tag, von Montag bis Sonntag. Heute sind es nur noch 15, und die Wochenenden sind frei.
„Die Bevölkerung wird immer älter, das ist für uns als Friedhof natürlich nicht gut“, scherzt Josef Kirchberger, der seit 30 Jahren auf dem Zentralfriedhof arbeitet.
Lange war er Portier bei Tor 11, irgendwann wurde sein Talent als Edutainer erkannt, seither macht er Führungen auf dem Zentralfriedhof, der ja tatsächlich eine Sehenswürdigkeit ist. Schon die Zahlen sind imposant.
Flächenmäßig ist er mit seinen zwei km² der zweitgrößte Friedhof Europas (nach Hamburg-Ohlsdorf); nimmt man die „Einwohnerzahl“ als Maßstab, ist er mit drei Millionen Verstorbenen sogar der zweitgrößte der Welt (nach dem 1.400 Jahre alten Friedhof Wadi as-Salam im Irak).
Eröffnung wegen Überfüllung
Eröffnet wurde der Zentralfriedhof vor 150 Jahren, weil die bestehenden Wiener Friedhöfe überfüllt waren. Draußen in Kaiserebersdorf – damals außerhalb Wiens, von „zentral“ kann noch heute keine Rede sein – war genug Platz, und der wurde auch benötigt: In den ersten Jahrzehnten musste der Friedhof sieben Mal erweitert werden.
Erst nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Monarchie war er endlich groß genug. Und obwohl Wien inzwischen wieder so viele Einwohner wie vor 100 Jahren hat, ist nicht zu befürchten, dass dem Zentralfriedhof der Platz ausgeht. Im Gegenteil: Es werden derzeit mehr Gräber aufgelassen als neu vergeben.
40 Prozent Urnen
Grund dafür ist leider nicht, dass die Leute weniger sterben, sondern dass das klassische Erdgrab zunehmend an Bedeutung verliert. Der Anteil der Urnenbestattungen liegt bereits bei 40 Prozent, besonders beliebt ist das sogenannte Waldgrab. „Die Idee dahinter ist wunderschön“, erklärt Kirchberger: „Die Urne zersetzt sich, der Bewuchs nimmt die Asche auf, und das Leben geht quasi im Baum weiter.“ Seit 2009 ist diese naturnahe Form der Bestattung im Angebot, vier Waldfriedhofsbereiche gibt es inzwischen.
Auf dem Zentralfriedhof sind alle gleich. Buddhisten liegen neben Juden, Arme neben Reichen, Opfer neben Tätern. Sonderstatus genießen nur Bundespräsidenten und Prominente. Erstere werden in der Präsidentengruft beigesetzt. Letztere bekommen ein Ehrengrab.
Habe die Ehre
Die Ehrengräber sind für Touristen der Hauptgrund, den Zentralfriedhof zu besuchen. Besonders beliebt ist die prominent besetzte Musikerabteilung mit Beethoven, Schubert, Brahms & Co. Junge Komponisten legen ihren Idolen manchmal Notenblätter aufs Grab, gelegentlich deponieren Fans auch Liebesbriefe.
Einige seiner berühmtesten Toten sind älter als der Zentralfriedhof – als er 1874 eröffnet wurde, war Nestroy seit zwölf Jahren tot, Beethoven seit 47 Jahren. Die Erklärung hat mit PR zu tun: Um das Image des zunächst eher unpopulären Zentralfriedhofs aufzumöbeln, waren die sterblichen Überreste von auf anderen Friedhöfen begrabenen Promis exhumiert und hierhin verlegt worden.
300 Ehrengräber
Etwa 300 Ehrengräber gibt es auf dem Zentralfriedhof, dazu kommen rund 600 „ehrenhalber gewidmete“ Gräber. Beide werden vom Bürgermeister zugesprochen, für beide übernimmt die Stadt auf Friedhofsdauer Miete und Erhaltungskosten.
Der Unterschied? Die Ehrengräber befinden sich in prominentester Lage zwischen Haupteingang und Friedhofskirche; ehrenhalber gewidmete Gräber im etwas weiter entfernten „Ehrenhain“ sowie über den Friedhof verstreut. Es sind de facto also Ehrengräber zweiter Klasse, wobei die Unterscheidung ziemlich willkürlich erscheint. „Kottan“-Regisseur Peter Patzak etwa hat ein Ehrengrab, „Kottan“-Autor Helmut Zenker ein ehrenhalber gewidmetes.
2 Quadratkilometer
groß ist der Zentralfriedhof. Das entspricht der Fläche von 6. und 8. Bezirk zusammen
15.000 Bäume
und 35 Kilometer Hecken sind entlang des 80 Kilometer langen Wegenetzes gepflanzt
3 Millionen Verstorbene
sind auf dem Zentralfriedhof begraben. Damit ist er der zweitgrößte Friedhof der Welt
19 Haltestellen
umfasst die Route der Buslinie, die von den Wiener Lokalbahnen auf dem Zentralfriedhof betrieben wird. VOR-Tickets sind gültig
170 Tierarten
sind auf dem
Zentralfriedhof heimisch, darunter
58 Vögel,
52 Insekten,
25 Schnecken,
16 Säugetiere und
3 Fische
Kriege und Katastrophen
Im Zentralfriedhof spiegelt sich die Geschichte der vergangenen 150 Jahre. An zivile Katastrophen wie den Ringtheaterbrand (1881, rund 400 Tote) oder das Lawinenunglück vom Sonnblick (1928, 13 Tote) wird mit monumentalen Grabmälern ebenso erinnert wie an Kriege und Revolutionen. 66 rund um den Justizpalastbrand 1927 erschossenen Demonstranten ist eine eigene Gedenkstätte gewidmet; den vier damals getöteten Polizisten auch.
Eine besonders bittere Stelle des Zentralfriedhofs ist die Gruppe 40, unmittelbar neben dem „Ehrenhain“, wo die Nazis mehr als 1.000 in Wien hingerichtete Regimegegnerinnen und Widerstandskämpfer verscharren ließen. Heute wird hier sämtlicher NS-Opfer gedacht, darunter die in der Euthanasieklinik „Am Spiegelgrund“ ermordeten Kinder oder die Toten der Konzentrationslager.
Soldatenfriedhof
Am anderen Ende, ganz hinten an der Friedhofsmauer, stehen – in Reih und Glied – die Kreuze des Soldatenfriedhofs, auf dem mehr als 7.000 Gefallene der Deutschen Wehrmacht bestattet sind.
Im „Anatomiegrab“ sind jene Menschen begraben, die ihren Körper der Wissenschaft zur Verfügung gestellt haben. Sie werden in Sammelurnen beigesetzt, auf Gedenktafeln können Angehörige die Namen der Verstorbenen anbringen lassen. Auf dem „Babyfriedhof“, den es seit 2001 gibt, werden tot geborene oder unmittelbar nach der Geburt verstorbene Kinder, deren Eltern selbst keine Bestattung veranlasst haben, beigesetzt.
Sogenannte Sozialgräber gibt es auch für erwachsene Verstorbene ohne Vermögen oder Angehörige; man erkennt sie daran, dass sie nicht gemauert sind und weder Kreuz noch Grabstein haben, nur ein schlichtes Brett mit Namensschild.
Leben auf dem Friedhof
Der Wiener Biologe und Paläontologe Thomas Filek hat erkannt, dass Friedhöfe nicht nur Totenstädte sind, sondern auch Orte des blühenden Lebens. Es sind geschützte Räume, wie sie Wildtiere in der Stadt sonst kaum noch vorfinden. Seit drei Jahren betreibt er das Projekt „BaF – Biodiversität am Friedhof“, in dem Flora und Fauna der Wiener Friedhöfe dokumentiert und analysiert werden. Allein am Zentralfriedhof wurden neben mehr als 200 Pflanzen- und 79 Pilzarten bisher rund 170 Tierarten nachgewiesen.
„Die Besonderheit des Zentralfriedhofs liegt darin, dass er so viele verschiedene Habitate und Lebensräume bietet“, sagt Filek. „Am alten jüdischen Friedhof gibt es viel Altbaumbestand, Richtung Hauptallee gibt es Kulturbauten mit Mauerwerk für Eulenvögel oder Turmfalken. Die Ziegelmauer bei Tor 9 wieder ist ideal für Reptilien.“
In den Teichen, die im „Naturgarten“ im hinteren Teil des Friedhofs angelegt wurden, tummeln sich Exemplare der seltenen Wechselkröte und Goldfische, die offensichtlich jemand ausgesetzt hat. Es gibt Rehe auf dem Zentralfriedhof, und für Birdwatcher ist er unter anderem deshalb interessant, weil hier die in der Stadt rare Gelegenheit besteht, einen Wiedehopf zu sichten.
Gemüsebeet
Auf Gruppe 11 haben seit zwei Jahren alle Grabnutzungsberechtigten und alle Friedhofsmitarbeiter die Möglichkeit, ein Gemüsebeet zu pachten (ab 149 €/Jahr). Organisiert wird das Urban-Gardening-Projekt vom Verein Ackerhelden, der den Hobbygärtnerinnen und -gärtnern mit Rat und Tat zur Seite steht.
Der Boden sei sehr fruchtbar, eine gute Mischung aus Sand und Lehm, weiß Rita Himmel von den Ackerhelden – und fügt schnell hinzu, dass an der Stelle seit mindestens 100 Jahren keine Bestattungen stattgefunden haben. „Für manche ist das Gärtnern auch eine Art Trauerarbeit“, sagt sie. „Sie mögen es, dass ihr Partner oder ihre Partnerin in der Nähe ist.“
1874
Am 1.11. wird der Zentralfriedhof eröffnet, die fünf „Kommunalfriedhöfe“ (St. Marx, Matzleinsdorf, Hundsturm, Schmelz, Nußdorf) werden geschlossen
1904
Eröffnung des Evangelischen Friedhofs (Tor 3). Bis heute wurden dort 40.000 Tote bestattet
1911
Einweihung der nach Plänen von Max Hegele erbauten Friedhofskirche. Sie wird nach dem kurz davor verstorbenen (und unter der Kirche beigesetzten) Bürgermeister „Dr.-Karl-Lueger-Gedächtniskirche“ getauft. Seit 2000 ist sie nach dem Hl. Karl Borromäus benannt
1917
Weil der alte jüdische Friedhof (Tor 1) voll ist, wird bei Tor 4 der neue jüdische Friedhof eröffnet. Bisher wurden dort etwa 70.000 Tote beerdigt
1925
Fertigstellung des
Gemeindebaus bei Tor 3, für Beschäftigte der
Friedhofsgärtnerei
Information
Führungen und Veranstaltungen zum Jubiläum: www.friedhoefewien.at/ 150-jahre-wiener-zentralfriedhof
Trauer und Trost
Leid und Schönheit, Trauer und Trost liegen auf dem Zentralfriedhof so nah beieinander wie die Aufbahrungshalle 2 und die Filiale der Konditorei Oberlaa. Es ist kein Ort für Tote, sondern einer für Lebende, die sich an die Toten erinnern möchten.
Der Zentralfriedhof ist das Langzeitgedächtnis von Wien. Ganze Epochen sind hier abgespeichert.
Josef Kirchberger hat sein Büro über der Aufbahrungshalle 1, gleich links vom Haupteingang. Wenn das Fenster offen ist und gerade eine Verabschiedung stattfindet, hört er die Leute manchmal weinen, und auch nach so vielen Jahren am Zentralfriedhof lässt ihn das nicht kalt. „Das ist mir nicht wurscht“, sagt er.
„Aber dann denke ich mir: Sterben muss ein jeder. Und wenn ich einmal sterbe, dann ist es doch besser, ich werde auf einem schönen Friedhof bestattet.“
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