Karl Mahrer: Video Killed the Shooting Star
„Ist das normal?“, ruft Karl Mahrer seinem Publikum immer wieder entgegen. Dramaturgische Pause – dann gibt er sich stets selbst die Antwort: „Nein, das ist nicht normal.“ Wir schreiben Jänner 2023, als der Wiener ÖVP-Chef zu seiner Neujahrsansprache lädt und dort eine bemerkenswerte Rede hält.
Ja, tatsächlich war es Mahrer, der – lange vor seiner niederösterreichischen Parteifreundin Johanna Mikl-Leitner und Kanzler Karl Nehammer – als erster mit dem politischen Kampfbegriff des „Normalen“ zu Felde zog. Dass sich daran heute in den eigenen Reihen kaum jemand erinnert, sagt einiges über die Bedeutung der Stadtpartei im Gesamtgefüge der ÖVP.
Auf Streife
Von Bedeutung ist die Ansprache dennoch, wenn man die aktuelle Lage der Wiener ÖVP verstehen will. Sie markiert einen Wendepunkt in der Positionierung und Kommunikation Mahrers, der sich auf Social Media neuerdings als angriffiger Video-Streifenpolizist profiliert.
In seinen kurzen Clips benennt er von ihm geortete Missstände – sei es am Brunnenmarkt, in der Gumpendorfer Straße oder in der Mariahilfer Straße. Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Diese kommt aber nicht nur vom politischen Gegenüber, sondern zunehmend aus den eigenen Reihen.
Der Pfad, auf den Mahrer die Wiener ÖVP führt, gefällt intern nicht jedem – vor allem, weil es ein ganz anderer ist als jener, für den er im Mai 2022 von den Delegierten gewählt wurde.
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Für interne Grabenkämpfe ist die Wiener ÖVP freilich bekannt – so weit, so normal. Problematisch ist für die Partei, dass Mahrer sie kurz vor zwei wichtigen Wahlen in eine Sinnkrise geführt hat.
Eigentlich sollte man in den Vorbereitungen für die Nationalratswahl sein, die spätestens 2024 ansteht. (Ein wirklich gutes bundesweites Ergebnis ist, das weiß man in der ÖVP, nur möglich, wenn das traditionell schwächelnde Wien nicht komplett auslässt.) Ein Jahr später wird in Wien gewählt – die Nagelprobe für Mahrer, der einst nur als Art Übergangsobmann für einen Jüngeren (genannt wurde einst der progressive Nationalratsabgeordnete Nico Marchetti) gehandelt wurde, bis er verkündete, selbst in die Wahl ziehen zu wollen.
Der Wandel
Die Wiener ÖVP war schon vieles – es gab die „Bunten Vögel“, man war die „liberale Stadtpartei“, später unter Sebastian Kurz und Landeschef Gernot Blümel dann „Mitte-Rechts mit Anstand“. Momentan können nur die wenigsten Funktionäre benennen, wofür die ÖVP steht. Daran hat auch ein „Dialog-Forum“, in dem die Partei im Juni „Zukunftsthemen“ erarbeitet hat, wenig geändert.
Dabei startete Mahrer als eine Art spätberufener Shooting Star. Der 1955 Geborene, der einst Vize-Polizeipräsident von Wien war, begann seine Polit-Karriere unter Sebastian Kurz im Nationalrat, bevor er Ende 2021 kurzerhand die Landespartei vom eilig scheidenden Blümel übernahm.
Ebenso eilig setzte Mahrer andere Themen – und wählte eine andere Form des Umgangs. Er suchte die Nähe zur SPÖ und gab das Ziel aus, 2025 als kleiner Partner in die Stadtregierung einziehen zu wollen. Inhaltlich gab er den klugen Bürgerlichen, er knüpfte neue Bande zum mächtigen Wirtschaftskammer-Chef Walter Ruck, mit dem sein Vorgänger gebrochen hatte.
Er sprach in gemäßigtem Ton über Sicherheit und Seniorenpolitik ebenso wie über Ärztemangel und Außenpolitik. Da fühlt er sich wohl, da kennt er sich aus, das merkte man. Er selbst bezeichnete sich einst dem liberalen ÖVP-Flügel zugehörig.
Wie aber kommt es, dass Mahrer nicht einmal zwei Jahre später in „Unsicherheitszonen“ auf Streifendienst geht und Videos im FPÖ-Stil produzieren lässt? Der Parteichef war stets getrieben von Kritikern, die – und das ist ein weiteres Problem – aus ganz unterschiedlichen Lagern der Partei kamen und kommen.
Die Mitte-Rechts-Fraktion rund um Blümel, die von Mahrer entmachtet wurde, warf ihm anfangs einen konturenlosen Kuschelkurs vor. Als die streitbare Abgeordnete Laura Sachslehner frustriert als Generalsekretärin der Bundes-ÖVP hinwarf, probte man gar den Aufstand. Klubchef Markus Wölbitsch forderte öffentlich eine Rückkehr zu jener Politik, für die die Partei 2020 gewählt worden sei.
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Tatsächlich gab Mahrer – beeinflusst von mäßigen Umfrage- und Bekanntheitswerten – nach und versuchte sich an griffigeren Themen wie der Zuwanderung. Seine Kritiker konnte er damit nicht beruhigen. Plötzlich war ihnen Mahrer rhetorisch zu nahe an der FPÖ, zu wenig authentisch.
Die Videos
Größter Stein des Anstoßes sind die neuen Videos: Sie seien handwerklich schlecht gemacht, heißt es in der Partei. Das dürfe speziell, wenn man heikle Themen („oft auch die richtigen“) ansprechen wolle, nicht passieren. Dass man mit der „spitzen politischen Positionierung“ zwar im Teich der FPÖ-Wähler fische, Wechselwillige aus anderen Parteien mit der neuen Tonalität jedoch verschrecke, wird bemängelt.
Die Video-Tour ist auch bei den Bezirksparteien nur bedingt beliebt: Kritik am roten Wien kommt vor allem dann gut an, solange sie nicht das eigene Grätzel betrifft. Da halten sich viele Bezirkspolitiker dann doch lieber vornehm im Hintergrund und vermeiden einen Auftritt im Video. Dass die Kampagne in der Wirtschaftskammer, die die Unternehmer vor Ort vertritt, auf Gegenliebe stößt, darf ebenfalls bezweifelt werden. (Gemeinsame öffentliche Auftritte von Mahrer und Ruck gab es übrigens lange nicht mehr.)
Klubchef Wölbitsch zieht auf Social Media zeitgleich übrigens mit einer eigenen Video-Serie durch Wien und bewirbt die schönsten sommerlichen Plätze in der Stadt – etwa das Museumsquartier nahe der „unsicheren“ Mariahilfer Straße. Eine subtile Botschaft? Nein, ist zu hören. Die Videos stünden nicht im Widerspruch zueinander.
Wer ist ein Österreicher?
Interne Debatten soll es auch über das jüngste KURIER-Interview des Parteichefs anlässlich des geforderten „Marxismus-Check“ gegeben haben: Mahrer zweifelte darin sinngemäß an, dass Zuwanderer zweiter und dritter Generation, die über eine österreichische Staatsbürgerschaft verfügen, wirklich „Österreicher“ seien. Funktionären mit Migrationshintergrund gefiel das nicht. Andere störten sich an der progressiven Positionierung in Sachen Verkehr.
Einig sind sich die Kritiker in einem: Mahrer sei von seinem engsten Umfeld schlecht beraten, er habe „problematische“ Personalentscheidungen getroffen. So tauschte er den verbindlichen Landesgeschäftsführer Markus Keschmann (der schon in die Neujahrsrede nicht mehr eingebunden gewesen sein soll) gegen den bisherigen Kommunikationschef Peter Sverak sowie den einstigen Kurz-Berater Stefan Steiner. Sverak ist auch Mastermind hinter den Videos.
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Bleibt die Frage: Kann man es als ÖVP-Chef irgendjemandem recht machen? Ja, es gibt auch Lob. Dass Mahrer mit seinen Videos „auch richtige Themen benenne“ und im stadtpolitisch blutleeren Sommer als einziger regelmäßig für Schlagzeilen sorge, sei bemerkenswert, sagen Funktionäre. Aufmerksamkeit ist eine wichtige Währung für Oppositionsparteien.
Und Mahrer selbst? Er spricht gerne von einem klaren Kurs, einer geeinten Partei und betonte zuletzt, sich „den Mund nicht verbieten lassen“ zu wollen. Auch wenn es Häme vom politischen Gegner gebe, zeige sich immer rasch, dass er mit den Themen, die er benenne „am Ende recht habe“. Bei den „normalen“ Menschen komme das gut an, ist man überzeugt. Laut eigenen Umfragen, so ist zu hören, liegt die Wiener ÖVP derzeit bei rund 13 Prozent der Wählerstimmen.
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