Verkehr: Die letzte Reise der verlassenen Räder
Im Winter kann es passieren, dass ein Fahrrad wochenlang an einem Bügel auf der Straße angekettet ist, ohne bewegt zu werden. Nicht alle fühlen sich dazu berufen, im Schnee durch die Stadt zu radeln, nicht immer hat man einen Fahrradraum als Parkplatz. Doch beim Abstellen im öffentlichen Raum ist Vorsicht geboten: Bleibt ein Rad allzu lange draußen stehen, kann es verschwinden.
Und zwar nicht nur, weil es dort leichter gestohlen wird. Sondern auch, weil es nach einer gewissen Zeit von der MA 48 entfernt wird – überhaupt, wenn es nicht mehr ganz frisch aussieht. Denn die Parkplätze für Räder sind heiß begehrt.
„Ein desolates Fahrrad kommt selten allein. Wir bekommen Meldungen über kaputte Fahrräder oft aus der Radcommunity, weil die Abstellplätze gebraucht werden“, sagt Andreas Tesar. Er ist technischer Leiter der Abschleppgruppe in der MA 48 und als solcher auch für die Fahrrad-Entfernung verantwortlich. Den KURIER hat er auf die letzte Reise der Räder mitgenommen.
Vier Wochen Gnadenfrist
Damit die MA 48 überhaupt aktiv wird, braucht es vorab eine Beschwerde. Absetzen kann man diese über das Misttelefon (01/546 48), das Magistratische Bezirksamt, über eine Bezirksvorstehung oder die „Sag’s-Wien“-App am Handy. Im Fall der App gehen die Meldungen beim Stadtservice ein, ansonsten gelangen sie zur MA 48.
Deren Mitarbeiter kontrollieren daraufhin, ob an der genannten Stelle tatsächlich ein einsames und verlassenes Fahrrad steht. „Wir fahren zu der Adresse, ohne zu wissen, was uns erwartet“, sagt Tesar. Mit Fotos und Notizen wird der Zustand des Rads dokumentiert. Damit es entfernt werden kann, muss es desolat, also nicht mehr fahrbereit sein, so die MA 48. Das heißt: Es müssen etwa die Reifen, der Sitz oder das Lenkrad fehlen.
10,8 Tonnen Fahrradwracks
übergab die MA 48 im Jahr
2021 an einen Abfallverwerter
1.500 verlorene Fahrräder
endeten im Vorjahr am Abschleppplatz in Simmering
550.000 Fahrrad-Haushalte
hat Wien laut dem Verkehrsclub
50.700 Radabstellplätze
gibt es in dieser Stadt
168,6 Kilometer Radwege
führen insgesamt durch Wien
„Manchmal ist nur noch ein Reifen mit Schloss zu sehen, sagt Tesar. „Einmal fanden wir auch schon eine defekte Fahrrad-Rikscha. „Viele verlassene Räder entdecken wir in den Außenbezirken bei großen Abstellplätzen, etwa bei der U-Bahn in Hütteldorf.“
Nach der Dokumentation kommt der nächste Schritt: Die Mitarbeiter bringen eine weiße Schleife auf dem Rad (oder auf dem, was davon noch übrig ist) an. Auf der Schleife ist zu lesen: „Dieses Fahrrad ist für die nächste Entfernungsaktion der MA 48 vorgesehen“.
Dann heißt es für die Abschleppgruppe: warten. Vier Wochen müssen die Räder mit der Schleife daran befestigt stehen bleiben. Man gibt dem Besitzer Zeit, das Gefährt wegzubringen, bevor es abgeholt wird. Doch so manchen Besitzern gelingt das nicht. Etwa, weil sie ein Kind bekommen haben, wie Tesar erzählt. Oder neuerdings auch, weil sie in Quarantäne sind.
Sind die vier Wochen vorüber, werden die Fahrräder eingesammelt. Die rechtliche Basis dafür ist die Straßenverkehrsordnung: „Die Entfernung ist zu veranlassen bei einem Gegenstand, bei dem zu vermuten ist, dass sich dessen der Inhaber entledigen wollte“. Soll heißen: Die MA 48 darf die alten Fahrräder entfernen, wenn davon ausgegangen werden kann, dass sich niemand mehr um sie kümmert.
Verschiedene Schicksale
Dann wird das grobe Gerät ausgepackt: „Mit einem Winkelschleifer werden die Schlösser entfernt“, sagt Tesar. In Kastenwagen werden die Räder anschließend auf den Abschleppplatz in Simmering gebracht. Dort bleiben sie zwei Monate, bevor sie in den Besitz der Stadt übergehen. Wer sein Fahrrad davor noch abholen will, muss 65 Euro Abschleppgebühr und sieben Euro pro Tag im Lager bezahlen.
Im Vorjahr wurden rund 3.000 Schleifen auf Rädern angebracht. 1.500 wurden schließlich auch entfernt und nach Simmering gekarrt. Die Reise der dort gestrandeten Räder endet nicht für alle gleich. Zehn Prozent der Räder werden repariert und im 48er-Tandler verkauft, weite zehn Prozent kommen in soziale Werkstätten. Und die restlichen Fahrradwracks werden von einer externen Firma gepresst, geschreddert und wiederverwertet.
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